Wäre er Wladimir Putin, er hätte die Ukraine „sogar noch früher überfallen“, gab John Joseph Mearsheimer (77), weltweit viel beachteter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Chicago, unlängst in einem bemerkenswerten Interview mit der NZZ sein offenbar grenzenloses Verständnis für den russischen Krieg gegen Kiew zu Protokoll. Dessen Urheber verortet er passenderweise nicht im Kreml, sondern im Westen: „Putin hat unmissverständlich deutlich gemacht, dass die Ukraine kein NATO-Mitglied werden kann. Und er sagte, er würde die Ukraine zerstören, bevor er das zulassen würde. Die Europäer und die Amerikaner haben ihm nicht geglaubt, ebenso wenig wie die Ukrainer. Wir haben Putin provoziert, und er ist einmarschiert. Das Endergebnis dieser Politik ist, dass die Ukraine zerstört wird. Wir hätten Putin ernst nehmen sollen.“

Wie tickt Russland?

Nun ist Mearsheimer berüchtigt dafür, mit einigem Vergnügen an der Provokation intellektuell eher unhaltbare Positionen zu vertreten, etwa, indem er bei den US-Wahlen 2016 und 2020 ausgerechnet den hardcore-sozialistischen Kandidaten Bernie Sanders unterstützte oder jüngst allen Ernstes Israel einen Genozid im Gazastreifen vorwarf.

Trotzdem ist seine Verteidigung der russischen Position bemerkenswert. Denn sie beleuchtet jene Logik, der Putin und die russischen Eliten und deren auch bei uns gar nicht so wenigen Claqueure offenbar folgen, ob uns das gefällt oder nicht. Sollte es früher oder später doch echte Friedensgespräche geben – was irgendwann ja nach jedem Krieg noch der Fall war –, dann wird es hilfreich sein, die wahren Motive der russischen Seite besser zu verstehen. Wobei „verstehen“ in diesem Zusammenhang nur „begreifen“ bedeuten kann, nicht aber „Verständnis“. Wer Wladimir Putin zu verstehen versucht, muss deswegen kein Putin-Versteher sein.

Kubanische Lehren

Russland handelt, folgen wir der Argumentation Mearsheimers, um Putin besser verstehen zu können, im Grunde wie jede Weltmacht, die ihre Interessen gefährdet sieht, gleichgültig, ob diese Gefährdung real oder bloß imaginiert ist. Dass sich die Ukraine der EU und vor allem der NATO angenähert habe, sei für Russland demnach genauso inakzeptabel wie seinerzeit die geplante Stationierung sowjetischer Atomraketen auf Kuba. „John F. Kennedy machte den Sowjets während des Kalten Kriegs klar, dass die Vereinigten Staaten militärische Gewalt anwenden würden, sollten sie die Raketen nicht entfernen“, zieht Mearsheimer eine Parallele. „Und Putin machte klar, dass er militärische Gewalt anwenden würde, wenn wir die NATO-Erweiterung in die Ukraine nicht stoppen würden. Die beiden Situationen sind bemerkenswert ähnlich.“

Das sind sie tatsächlich bis zu einem gewissen Grad, auch wenn kein Mensch je daran gedacht hat, in der Ukraine westliche Atomraketen zu stationieren, die Russland aus nächster Nähe bedrohen würden.

Aber das große Bild ist schon zutreffend: Großmächte führen eben Kriege, wenn sie dies zum Schutz ihrer nationalen Interessen für erforderlich halten, ohne sich dabei um das Völkerrecht zu kümmern.

Man kann das eine gleichsam hyperrealistische Sicht der Dinge nennen, die einfach beschreibt, was ist. Teilt man diese Einschätzung, hat der Westen wohl mangels strategischer Weisheit die Lage falsch beurteilt: „Das Problem ist, dass die meisten Menschen im Westen die NATO-Erweiterung in die Ukraine nicht als existenzielle Bedrohung ansehen … Wenn man jedoch Russland ist und eine Geschichte von Invasionen aus dem Westen hat, wird man nervös, man bekommt Angst. Und genau das ist passiert“ (Mearsheimer).

Nicht alles Hinkende ist ein Vergleich

Dies so zu sehen, mag legitim sein, ist aber gleichzeitig von einer geradezu erschreckenden Gleichgültigkeit gegenüber dem Faktum, dass Russland, selbst, wenn man dieser Logik folgt, unvorstellbares Unrecht von historischen Dimensionen begeht, ein Menschheitsverbrechen von kolossalen Ausmaßen. Folgt man Mearsheimers Argumentation konsequent, lässt sich Hitlers Angriffskrieg genauso irgendwie legitimieren wie jeder andere Überfall eines Landes auf seine Nachbarn. Das auch von Mearsheimer explizit verwendete Wort vom „Präventivkrieg“, diesfalls Russlands, kann man ja bekanntlich immer irgendwie hinbiegen.

Damit bricht aber auch Mearsheimers Forderung, Putin einfach alles zu geben, was er will, weil sonst „mehr Ukrainer sterben und die Ukraine mehr Territorium verliert“, irgendwie in sich zusammen. Einem Schläger alles zu geben, was er will, um nicht noch mehr geschlagen zu werden, ist auf jeder nur denkbaren Ebene etwas bescheiden ambitioniert. Dieser Logik folgend, hätten die Alliierten im Zweiten Weltkrieg Hitler am Höhepunkt seiner militärischen Macht in Europa nach der Besetzung Österreichs, Polens, der Tschechoslowakei, Belgiens, Hollands und Frankreichs einfach seine Beute kampflos überlassen sollen, um nicht den Tod von noch mehr Menschen zu riskieren. Was keine so prickelnde Idee gewesen wäre, wie wir heute wissen.
In einem Punkt freilich hat er recht: Europas Fähigkeit, strategisch zu denken anstatt auf das Gute im Menschen zu hoffen, ist stark ausbaufähig. Das zumindest kann ein Learning aus der ukrainischen Tragödie werden.