Viktor Orbán ist, ob das seinen zahlreichen Kritikern in Europa gefällt oder nicht, heute der mit Abstand erfolgreichste Politiker des Kontinents, nimmt man die Ergebnisse unstrittig demokratischer Wahlen als Maßstab. Denn kein anderer Regierungschef hat es geschafft, die letzten fünfzehn Jahre mit absoluter Mehrheit im Parlament zu regieren – so etwas gibt es nur in Budapest, aber in keiner anderen Hauptstadt der EU. Auch wenn vieles an seiner Politik problematisch ist – von der grassierenden Korruption, dem Bedrängen kritischer Medien, der unguten Anbiederung an Russland bis hin zu einer albernen Ablehnung sexueller Minderheiten –, ist deshalb unbestreitbar, dass der Mann über ein hohes Maß an politischer Legitimität verfügt. Das mag man mögen oder nicht, es zu bestreiten wäre ausgesprochen unredlich und dumm.

Der gestohlene Traum

Ich halte es nicht zuletzt deswegen für angemessen, seine Positionen nicht einfach pauschal als „rechtspopulistisch“ zu denunzieren und anschließend unreflektiert zu entsorgen, sondern sich mit ihnen inhaltlich auseinanderzusetzen. Denn nicht alles von dem, was Viktor Orbán sagt, ist nur deswegen falsch, weil Viktor Orbán es sagt – auch wenn die Berichterstattung vieler Medien, auch in Österreich, genau dieser schiefen Logik folgt.

So war einigermaßen bemerkenswert, was er unlängst bei einem Treffen nationalkonservativer und rechter Politiker in Budapest in einer programmatischen Grundsatzrede formulierte: „Der europäische Traum wurde uns gestohlen.“

Die Vorstellung der Gründerväter der Union von einem „friedlichen, wohlhabenden und selbstbestimmten Europa“ sei einer „zentralistischen Agenda“ zum Opfer gefallen, die nationale Interessen missachte und die Unionsbürger entrechte. „Statt des europäischen Traums haben wir einen Albtraum“, sagte Orbán. Europa, so seine Diagnose, basiere „nicht mehr auf kultureller Identität oder demokratischer Vielfalt“, sondern auf „neuer Identität, zentralisierter Wirtschaftsführung und permanenter Verschuldung“. (Quelle: Tichys Einblick, 29. 5. 2025)

Ein enttäuschter Liebhaber?

Ich weiß ja nicht, ob ich jetzt ein böser Rechtspopulist, also im Grunde so eine Art Nazi bin, aber ich sehe das nicht viel anders als Herr Orbán. Dass „permanente Verschuldung“ leider ein Wesensmerkmal europäischer Politik geworden ist, kann ebenso wenig bestritten werden wie die „zentralisierte Wirtschaftsführung“ – Stichwort „Green Deal“ – oder das Bestreben der EU, nationale Identitäten zurückzudrängen und durch eine europäische zu ersetzen.

Orbán wird regelmäßig vorgeworfen, ein glühender Antieuropäer zu sein. Aber einer, der sagt, ihm wurde „sein europäischer Traum gestohlen“, erinnert viel eher an einen enttäuschten Liebhaber, der über die Jahre erkennen musste, welche Charaktermängel sein Objekt der Begierde aufweist.

Für mich ist das durchaus nachvollziehbar, weil auch mein europäischer Traum gestohlen wurde.

Gestohlen, indem systematisch ein politisches Versprechen nach dem anderen gebrochen wurde: das Versprechen, die Außengrenzen der Union gegen illegale Migration zu schützen; das Versprechen, Verschuldungs- und Defizitgrenzen einzuhalten, oder das Versprechen, die Spitze der europäischen Kommission demokratisch zu wählen und nicht im Hinterzimmer auszuhandeln.

Die berüchtigte Methode Juncker

Der Luxemburger Jean-Claude Juncker, langjähriger Präsident der EU-Kommission, hat die dazugehörige Vorgangsweise einmal selbst so beschrieben: „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert … Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“

„Weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde“ – das war, ich muss es gestehen, nicht wirklich mein Traum von Europa, und vermutlich bin ich nicht der Einzige, der das so sieht.

Genauso wenig wie die zunehmende Einschränkung der Meinungsfreiheit in Teilen der Europäischen Union, wie etwa jüngst vor allem in Deutschland und im Vereinigten Königreich nicht zu meinem Traum von Europa passen. Orbán nennt das „eine liberale Elite, die ihre Gegner nicht widerlegt, sondern ausschließt“. Die Debatte über ein mögliches Verbot der AfD in Deutschland zeigt, dass seine Diagnose da so falsch nicht ist.

Genauso übrigens wie seine Behauptung, „… die Europäer fühlen sich in ihren eigenen Städten, Häusern und Ländern nicht sicher. Sie sind Fremde in ihrer eigenen Heimat.“

Der Osten ist der neue Westen

Wobei das insofern unpräzise ist, als dieses Gefühl von Heimatverlust ausschließlich im Westen Europas auftritt, nicht hingegen in Warschau oder Budapest, wo ja bekanntlich auch Messerangriffe, Gruppenvergewaltigungen und andere Formen kultureller Bereicherung so gut wie nie vorkommen. Auch der in vielen Fällen migrantische, nur notdürftig als „Israelkritik“ getarnte Antisemitismus ist im Osten des Kontinents so gut wie unbekannt; wobei redlicherweise konzediert werden muss, dass dafür der traditionelle, christlich fundierte Antisemitismus noch immer nicht ausgelöscht ist. Aber der ist heute wenigstens nicht gewalttätig.

Vielleicht outriert Orbán ja ein wenig, wenn er in seiner Grundsatzrede behauptet, Europa sei von einem Traum zu einem „Albtraum“ geworden – aber das, was an seiner Kritik zutreffend ist, verschwindet deswegen ja nicht so einfach. Es wäre klüger, die politischen Eliten Europas würden diese Kritik ernst nehmen, als den Kritiker in Bausch und Bogen zu denunzieren.