eXXpress-Leser: Die Anrufung der „Sitten" durch den Bundespräsidenten ist ein Rückfall in den Feudalismus
Hart ins Gericht mit Bundespräsident Alexander Van der Bellen geht ein deutscher eXXpress-Leser: Van der Bellens Anrufung der „Sitten“ in der Politik wirke „inszeniert“ und sei „Einfallstor für Willkür“. Das Staatsoberhaupt bewege sich außerhalb des „Geistes der republikanischen Verfassung“. Wir bringen den Kommentar von Jörg Gebauer.
Hysterie? Einige grundsätzliche Aussagen zu dem ständigen Gerede über „das Sittenbild“ und der auffallend strapazierten Aussage „So sind wir nicht“.
Im Feudalismus waren die Sitten wichtiger als die Gesetze
Ganz allgemein gilt nämlich: Zwar gibt es auch in der „Staatsform Republik” durchaus einige Sitten. Diese sind aber nicht vollkommen deckungsgleich, nicht folgerichtig und sogar oft widersprüchlich. Genau so gab es auch in der „Gesellschaftsformation Feudalismus” immerhin bereits Gesetze. Dabei waren aber im Feudalismus die Sitten (das sogenannte „Althergebrachte“) deutlich wichtiger als die Gesetze. Der Clou ist, dass der Republik nun einmal primär das “Kategorie-System Gesetz” und eben nicht ein unkonkretes Sitten-Geflecht zugeordnet ist.
In der Republik sind „die Sitten“ nicht amtlich codiert
Zudem sind „die Sitten“ in einer Republik nicht amtlich codiert mit der kleinen Ausnahme von recht wenigen Gerichtsurteilen, in denen es zum Beispiel um „sittenwidrige Verträge“ geht, was aber nie Allgemeinverbindlichkeit erreichen kann, weil dies dann dem Freiheitsgedanken der Verfassung widersprechen würde. Das ist ein Unterscheidungsmerkmal der Republik zum Feudalismus.
Einfallstor für antidemokratische, antifreiheitliche Willkür
Zudem typisch für Republiken: Über Gesetze wird ein Konsens per Mehrheitsbeschluss hergestellt; nicht jedoch über die Sitten. Ein „Sittenbild” – …zudem ein nur behauptetes… – ist nichts anderes als ein Einfallstor für Willkür: antirepublikanisch, antidemokratisch, antifreiheitlich und dem Maßstab der Gesetze sowie jeder rationalen und verbindlichen Überprüfbarkeit entzogen (mit der Ausnahme von amtlichen Meinungsumfragen bezüglich der Einstellungen der Bürger zu einzelnen Sitten, aber niemals zu einer Sitten-Gesamtheit).
Van der Bellen betreibt „Säkular-Religion“
Wer in einer Republik die Sitten oft und vehement anruft, der betreibt eine Art „Säkular-Religion”. Wenn dies zudem vom Staatsoberhaupt geradezu systematisch betrieben wird, kann man mit Fug und Recht sagen, dass sich dieser dann außerhalb des „Geistes der republikanischen Verfassung” (im Sinne Montesquieus) bewegt.
Verfassungs-Inspirator Hans Kelsen wäre entsetzt
Ebenfalls würde sich der Verfassungs-Inspirator Hans Kelsen mit Schaudern abwenden. Gerade der Formalismus Kelsens hatte ja den Zweck, eine Präzision herbeizuführen: …also weg vom Geschwafel, weg von den reinen Behauptungen, weg vom Gedrechselten, weg vom Geschwurbel, weg vom Zurechtlegen, weg von den Gefühls-Appellen und hin zur kritisch-rationalen Überprüfbarkeit. In den Worten der Rousseau-Kritik: Weg vom Volonté générale und hin zum meßbaren Volonté de la Majorité.
Bald heißt es: „So und nicht anders müsst Ihr sein.“
Die Gefahr ist, dass es letztendlich nur ein kleiner Schritt ist vom defensiv-spießigen „So sind wir nicht“ zum „So und nicht anders müsst Ihr sein“. Das nervige Gerede „von den Sitten“ wirkt auf außenstehende Dritte wie rein inszeniert.
Jörg Gebauer lebt in Deutschland. Er ist Kommunikations- und Politikwissenschaftler – und eXXpress-Leser.
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