
Ralph Schöllhammer: Das Ende des Völkerrechts
Der britische Philosoph Jeremy Bentham bezeichnete universelle Menschenrechte einst als „Unsinn auf Stelzen“. Leider trifft diese Einschätzung auch heute noch zu – und sie lässt sich ohne Weiteres auf das Konzept des Völkerrechts ausweiten.
Bevor jetzt der Aufschrei kommt: Es ist keine Empfehlung, sondern eine nüchterne Feststellung. Einer der Gründe, warum ich die US-Hegemonie und eine unipolare Weltordnung stets befürwortet habe, liegt darin, dass Washington – selbst wenn es das Völkerrecht brach – zumindest dafür sorgte, dass andere sich daran hielten. Ein Machtzentrum, das gelegentlich die Regeln beugt, aber ansonsten für Ordnung sorgt, ist mir lieber als eine multipolare Welt, in der jeder nach Belieben gegen die Regeln verstößt.
Die multipolare Welt, die viele herbeisehnen, droht genau das zu werden: ein globales Spielfeld, auf dem Regelbrüche zur Norm werden. Russland marschiert in die Ukraine ein, Iran verletzt Nichtverbreitungsabkommen, die USA üben Druck auf Panama und Grönland aus, Israel bombardiert den Iran – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Völkerrecht funktioniert nur unter zwei Bedingungen: Erstens muss es eine Macht geben, die stark genug ist, andere zur Einhaltung zu zwingen – auch wenn sie sich selbst davon ausnimmt. Niemand kann eine solche Macht wirklich zur Rechenschaft ziehen; alles hängt von ihrem guten Willen und vielleicht von innenpolitischem Druck ab. Andernfalls agiert sie mit nahezu völliger Straflosigkeit. Zweitens muss das Völkerrecht so gestaltet sein, dass seine Einhaltung im nationalen Interesse der Staaten liegt. Wenn das Völkerrecht beispielsweise – wie es teilweise der Fall ist – die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten fordert, dann haben souveräne Staaten ein Eigeninteresse daran, diese Regel zu unterstützen.
Treppenwitz der Geschichte
Ein Blick in die Geschichte zeigt, wie trügerisch die Hoffnung auf eine höhere Instanz ist. Thukydides schildert im „Melier-Dialog“ das Gespräch zwischen den Mächtigen Athens und der kleinen Insel Melos. Die Melier appellieren an die Götter und an Gerechtigkeit, doch die Athener entgegnen kühl: „Die Starken tun, was sie können, und die Schwachen leiden, was sie müssen.“ Am Ende werden die Männer von Melos getötet, Frauen und Kinder versklavt. Die Strafe für Athen kam – aber zu spät für Melos. Wer sich auf das Völkerrecht verlässt, verlässt sich auf eine Macht, die im entscheidenden Moment nicht eingreift. Wie viele Ukrainer wurden durch das Völkerrecht gerettet? Wie viele Juden? Die Antwort ist ernüchternd.
Dass ausgerechnet Wladimir Putin heute Israels Verstöße gegen das Völkerrecht beklagt, ist ein Treppenwitz der Geschichte. Russland entdeckt das Völkerrecht immer dann, wenn es selbst keine anderen Optionen mehr hat und auf die öffentliche Meinung hofft. Das ist Heuchelei – gerade von einem Land, das selbst einen Angriffskrieg gegen einen Nachbarn führt. Die Behauptung, die Ukraine habe Russland existenziell bedroht, ist ebenso haltlos wie die Vorstellung, Iran würde sich nach dem Erwerb von Atomwaffen plötzlich an internationale Regeln halten. Das Gegenteil ist der Fall: Die Bombe dient gerade dazu, sich über alle Regeln hinwegzusetzen.
Iran ist per Definition ein revolutionäres Regime
Natürlich könnte man einwenden, dass auch die USA und Israel das Völkerrecht brechen. Das stimmt. Aber ihr Ziel ist es, in Ruhe gelassen zu werden – sie sind keine revolutionären Mächte, die die Weltordnung umstürzen wollen. Iran hingegen ist per Definition ein revolutionäres Regime, das nach regionaler Hegemonie strebt und offen die Vernichtung Israels und der USA propagiert. Selbst Jordanien und Saudi-Arabien akzeptieren daher stillschweigend das Vorgehen Israels.
Das Zeitalter des Völkerrechts ist vorbei – zumindest für den Moment. Die Welt ist zurückgekehrt zu einer Ordnung, in der Macht und Interessen zählen, nicht moralische Appelle. Wer das nicht erkennt, riskiert, wie die Melier, auf Gnade zu hoffen, wo keine zu erwarten ist.
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