Ralph Schöllhammer: Das Kreuz mit den Sanktionen
Der amerikanische General Douglas MacArthur stellte einmal fest, dass sich die Ursache für alle militärischen Niederlagen in zwei Worten beschreiben lässt: „Zu spät.“ Europa hat die geopolitische Zeitwende verschlafen und steht jetzt vor den Scherben einer Politik, die tatsächlich meinte Machtpolitik sei ein Relikt der Vergangenheit.
Gleiches gilt leider auch in Bezug auf die Wirtschaftssanktionen, mit denen der Westen Russland zur Einstellung seines Angriffskrieges in der Ukraine zwingen möchte. Der Zeitpunkt, um eine maximale Wirkung zu erzielen wurde schon im Februar verpasst, und das Argument mit schwächeren Sanktionen zu beginnen um sich „Pfeile im Köcher“ zu bewahren war spätestens mit der Anerkennung der „Volksrepubliken“ von Donezk und Lugansk ad absurdum geführt. Vielmehr spiegelte es den Versuch vor allem Europas wider, die eigene Schwäche als vermeintliche Stärke zu verkaufen. Tatsache ist jedoch, dass man in den europäischen Hauptstädten einen Ausfall russischer Energielieferungen mehr fürchtete als den Kreml.
Sanktionen nur effektiv, wenn Gegenseite überrascht wird
Sanktionen können aber nur dann den erwünschten Effekt erzielen, wenn sie die Gegenseite strategisch überraschen und diese zu einer Neuberechnung des Risikos zwingen. Hätte der Westen also bereits am 24. Februar einen kompletten Einfuhrstopp auf Gas, Öl und Kohle aus Russland verhängt hätte man Moskau ziemlich sicher am falschen Fuß erwischt, und Putin hätte sich mit einer Einschränkung seiner Forderungen auf die Krim und Teile des Donbass noch gesichtswahrend auf Verhandlungen einlassen können.
Es bleibt zwar zu befürchten, dass auch in einem solchen Szenario die Ukraine schmerzhafte Gebietsverluste hätte hinnehmen müssen, aber man wäre mit einem gestärkten Westen im Hintergrund in die Verhandlungen gegangen, was der jetzigen Situation zu bevorzugen gewesen wäre. Nun befindet sich Europa in der absurden Situation, gleichzeitig sowohl den ukrainischen Widerstand mit Waffenlieferungen als auch die russische Kriegsmaschinerie mit täglichen Überweisungen von über einer Milliarde USD zu unterstützen.
Wirtschaftskrieg für beide Seiten eine Belastung
Aber es gibt noch ein weiteres Problem, nämlich jenes, dass die Sanktionen nie so „historisch“ waren wie medial gerne behauptet wird. Der Historiker Nicholas Lambert veröffentlichte kürzlich einen Artikel im Wall Street Journal, in welchem er die britischen Sanktionen gegenüber Deutschland im Ersten Weltkrieg mit den jetzigen Sanktionen gegenüber Russland vergleicht. Sein Resümee: Auf einer Skala von 1 bis 10 waren die damaligen britischen Sanktionen (welche auch sofort mit Kriegsbeginn einsetzten) eine 8, die heutigen Sanktionen eine 3. Er stellt aber noch etwas wesentlich wichtigeres fest. Ein Wirtschaftskrieg ist für beide Seiten eine Belastung, es ist also ein Wettbewerb wer länger durchhält. Die Regierung in London ging damals davon aus, dass die Bevölkerung ca. ein Monat lang bereit sein werde schwere wirtschaftliche und soziale Einbußen hinzunehmen, aber sich der Loyalitäts- und Solidaritätseffekt dann abzuschwächen beginnt und staatliche Maßnahmen die Auswirkungen der Sanktionen abfedern müssen.
Ökonomen fordern Einfuhrstopp von russischer Energie
Auch diesen Zeitpunkt hat Europa versäumt. Vor vier Wochen war die Solidarität mit der Ukraine am höchsten und die Menschen hätten wahrscheinlich auch ein schmerzhaftes Energieembargo mitgetragen, vor allem wenn es Russland zum Einlenken bewegt hätte. Doch wer der öffentlichen Debatte folgt, merkt wie diese Bereitschaft praktisch wöchentlich abnimmt. Der bekannte Schriftsteller Franzobel sinnierte kürzlich in einem Beitrag für den Standard, ob man nicht ein kurzfristiges Verschwinden der Ukraine von der Landkarte in Kauf nehmen sollte um den Frieden wiederherzustellen. Während man im Western also immer lauter darüber nachzudenken beginnt, mit welchen moralischen Verrenkungen man die Ukraine im Stich lassen könnte, sieht Putin sich nach neuen Märkten für seine Rohstoffe um.
Mehrere namhafte deutsche Ökonomen fordern im Moment auf, den kompletten Einfuhrstopp von russischer Energie doch noch umzusetzen und argumentieren, die wirtschaftlichen Einbußen würden maximal 4% des BIP betragen. Der Think Tank Bruegel in Belgien veröffentlichte eine Studie, laut der eine komplette Unabhängigkeit von russischen Importen nur kurzfristig schmerzhaft aber andererseits schnell zu bewerkstelligen wäre. Liest man die Studie jedoch genauer, muss man zu dem Schluss kommen, dass viele der Annahmen vielleicht etwas zu optimistisch sind. Man müsse mit „Lichtgeschwindigkeit“ neue Versorgungsketten für Kohle finden, die europäische Energieinfrastruktur auf Flüssiggastransporte umstellen, entsprechende Häfen ausbauen, Sanktionen auf Venezuela und den Iran aufheben, und Maßnahmen einführen, die zuletzt während der Ölkrise 1973 oder des Zweiten Weltkrieges ergriffen worden sind und natürlich massiv in erneuerbare Energien investieren.
Russland und Ukraine für 12 Prozent der weltweit gehandelten Kalorien verantwortlich
Ich finde diese Ideen alle gut, aber wer in Europa von Infrastrukturprojekten und Lichtgeschwindigkeit in einem Satz spricht, muss sich den Vorwurf einer gewissen Realitätsferne gefallen lassen. Wer nach dem Fiasko des Flughafenbaus in Berlin meint, man könne nun innerhalb weniger Monate locker die 30% des Gases und über 40% der Kohle und des Öls welches wir aus Russland beziehen ersetzen kann nur beschränkt ernst genommen werden.
All diese Überlegungen beinhalten noch nicht die zu erwartende Preisexplosion bei Lebensmitteln, vor der Joe Biden und Emmanuel Macron diese Woche gewarnt haben. Zusammengenommen sind Russland und die Ukraine für 12% der weltweit gehandelten Kalorien verantwortlich, bei Agrarprodukten wie Weizen sogar für über 30%. Der nahe Osten und Afrika sind die Hauptimporteure russischen und ukrainischen Getreides, und dort macht sich bereits Panik breit: Nahezu täglich pilgern Delegationen nach Indien in der Hoffnung, Neu-Delhi könnte die zu erwartenden Ausfälle in Osteuropa kompensieren. Sollte das nicht der Fall sein, rückt ein zweiter arabischer Frühling und die Neuauflage von Bürgerkriegen in Nordafrika in den Bereich des Möglichen, inklusive einer erneuten Flüchtlingswelle aus Afrika, welche in Kombination mit jener aus der Ukraine das Jahr 2015 in den Schatten stellen würde.
Preisentwicklung für viele Menschen existentielle Frage
Bei allem Optimismus der Ökonomen bezweifle ich, dass ein Großteil der europäischen Bevölkerung den perfekten Sturm aus steigenden Lebensmittelpreisen, Energiekosten und einer erneuten Massenmigration über einen längeren Zeitraum hinnehmen würde. Und daran würde auch die Unterstützung für die Ukraine leiden. Es mag zynisch klingen, doch ab welcher Inflationsrate werden die Europäer bei Wahlen für Parteien stimmen die bereit wären, die Ukraine Russland zu überlassen? Das mittlere Bruttojahreseinkommen in Österreich beträgt ca. EUR 30.000, und für viele Menschen ist die Preisentwicklung eine existentielle Frage, die sich mit gutgemeinten Solidaritätsaufrufen einer einkommensstarken Elite nur schwer beantworten lässt.
Was gilt es also zu tun? Erstens eine Rücknahme des Atomausstiegs. Sowohl Forschung wie die Produktion von Elektrizität durch Nuklearenergie müssen wieder Priorität bekommen, ebenso wie man sich überlegen muss, die massiven Schiefergasreserven in Europa anzuzapfen. All das natürlich bei gleichzeitigem Ausbau alternativer Energien, doch diese können nur komplementär aber nicht als Ersatz dienen. Auch die Hemmschwelle gegenüber GMOs muss fallen – resistentere und ertragreichere Getreidesorten können eine globale Ernährungssicherheit gewährleisten und man wird endlich von ein paart wenigen Exporteuren unabhängig. Und es wird ein Freihandelsabkommen zwischen Europa und den USA benötigen, denn wo mehr gehandelt wird folgt auch der Ausbau der Infrastruktur.
Alle diese Schritte benötigen ein ideologisches Umdenken, sind aber für ein starkes Europa unerlässlich, und nur ein starkes Europa kann eine freie und unabhängige Ukraine garantieren.
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