Zu Beginn möchte ich klarstellen, dass ich in diesem Artikel nicht versuche, ein moralisches Argument zu präsentieren. Ich bin zwar ein Idealist und Moralist in innenpolitischen Angelegenheiten, aber in Bezug auf die internationale Politik bin ich wesentlich zynischer, und das aus gutem Grund. Wie die Europäische Union seit den 1990er Jahren gezeigt hat – erinnern wir uns an die Kriege auf dem Balkan – kann eine moralisch-humanistisch geprägte Außenpolitik bestenfalls zahnlos, schlimmstenfalls aber katastrophal sein. 

Absurde Ideen wie die “feministische” Außenpolitik Deutschlands sind nicht etwa innovativ, sondern schlichtweg töricht. Sie zeugen von einem Unverständnis eines grundlegenden Dogmas der internationalen Politik: Staaten sind im Grunde paranoid und gehen davon aus, dass Sicherheit daraus resultiert, militärisch und wirtschaftlich stärker zu sein als andere. Wir Europäer haben dies vergessen und geglaubt, wir könnten uns aus der Geschichte verabschieden. Das rächt sich nun, und während die Konflikte weltweit zunehmen, spielen wir auf dem europäischen Kontinent nur noch eine Zuschauerrolle. 

Sowohl Europa – als auch die einzelnen Mitgliedsstaaten – müssen sorgfältig neu bewerten, welchen Allianzen sie beitreten oder welche sie verlassen sollten. Gleichzeitig bedarf es einer umfassenden sozialen, wirtschaftlichen und militärischen Bestandsaufnahme. Was sind unsere tatsächlichen Fähigkeiten? Wo liegen unsere Schwächen? Wie muss sich der Staat auf eine neue Weltordnung vorbereiten? Eine neue Ordnung entsteht gerade, und es wird nicht ausreichen, lediglich die Geburtswehen zu beklagen, um sich vorzubereiten. Die Ereignisse im Nahen Osten demonstrieren deutlich, wie immer mehr Staaten ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen. Wir müssen die Weltkarte wie ein Schachbrett betrachten, auf dem jeder Akteur seine Züge macht. Fehler werden unvermeidlich passieren, aber jeder Staat wird versuchen, seine nationalen Interessen so weit wie möglich durchzusetzen.

Ein Angriff aus Kalkül – nicht aus Verschwörung

Israels Angriff auf den Iran war nicht der Akt einer großen jüdischen Kabale, die heimlich die Welt kontrolliert. Es war die Handlung eines Staates, der eine strategische Entscheidung traf, genau wie seine Nachbarn. Aufmerksame Beobachter werden feststellen, dass abgesehen von kleineren Protesten weder Jordanien, Saudi-Arabien noch Ägypten einen konsequenten Widerstand gegen Israels Handlungen gezeigt haben. Dies deutet entweder darauf hin, dass sie von Israel kontrolliert werden (unwahrscheinlich) oder dass sie die Ziele Israels teilen (viel wahrscheinlicher). Sie mögen dies nicht öffentlich zugeben wollen, aber in der internationalen Politik sprechen Taten lauter als Worte. 

Jordanien hat beispielsweise iranische Drohnen abgefangen, und Saudi-Arabien scheint israelische Flugzeuge in seinem Luftraum zu tolerieren. Dies zeigt, dass Amman und Riad ihre eigenen Berechnungen angestellt haben, auf welches Pferd sie in der Region setzen wollen, und es scheint nicht der Iran zu sein. 

Ich bin sicher, dass viele Artikel die Rechtmäßigkeit des israelischen Angriffs auf den Iran nach internationalem Recht oder die Frage, ob der Iran selbst gegen internationale Verpflichtungen verstoßen hat, diskutieren werden. Schließlich kam auch die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) am 12. Juni zu dem Schluss, dass sie nicht mehr ausschließen könne, dass Irans Atomprogramm auf die Entwicklung von Atomwaffen abziele. Die IAEA stellte fest, dass der Iran gegen seine nuklearen Nichtverbreitungsverpflichtungen verstoßen habe. Ihr Leitungsgremium verabschiedete eine Resolution gegen den Iran, die erste seit zwei Jahrzehnten. Ich glaube nicht, dass die IAEA mit Kriegstreibern besetzt ist. Anders als im Irak-Krieg 2003 wurde der Verdacht bezüglich Massenvernichtungswaffen diesmal nicht von den USA, sondern von einer UN-Behörde geäußert. Darüber hinaus hat die iranische Führung Präsident Trump strategisch falsch eingeschätzt und ihn nicht ernst genommen.

Die abgelaufene Frist – und eine falsche Hoffnung

Am 11. April berichtete der britische Telegraph, dass “Donald Trump dem Iran 60 Tage Zeit gegeben hat, um einem Atomabkommen zuzustimmen oder militärische Maßnahmen zu ergreifen.” Diese 60-Tage-Frist lief fast genau am 13. Juni ab. Überraschenderweise tat Teheran dies als eine weitere rote Linie ab, die die USA nicht durchsetzen würden, in der Hoffnung, dass die isolationistischen Kräfte der MAGA-Bewegung den Präsidenten zurückhalten würden. Vielleicht hätten die Mullahs vorsichtiger sein sollen, insbesondere nachdem die USA eine Woche zuvor mit der Evakuierung von Personal aus der Region begonnen hatten. Dies war nicht nur eine Frist zwischen dem Iran und den USA, sondern auch zwischen dem Iran und Israel. Anstatt die Wogen nach dem IAEA-Bericht zu glätten, kündigte der Iran absurderweise an, die Urananreicherung zu beschleunigen und sein Atomprogramm auszubauen. 

Wenn dies ein geopolitisches Pokerspiel war, ging der Iran offensichtlich davon aus, dass die USA und Israel bluffen würden. Dies war eine Fehleinschätzung. Dies führt uns zu den nächsten beiden Fehlkalkulationen. Erstens muss Israel Agenten in der gesamten Kommando- und Kontrollstruktur des iranischen Regimes haben. Andernfalls ist es schwer zu erklären, wie sie drei der höchsten Generäle des Iran, Hossein Salami, Mohammad Bagheri und Gholamali Rashid, ausschalten konnten, die Schlüsselrollen im Korps der Islamischen Revolutionsgarden (IRGC) und den iranischen Streitkräften spielten.

Wissenschaftler als Ziel – und eine blamable Luftabwehr

Nicht nur militärische Ziele und Nuklearanlagen wurden angegriffen, sondern auch Wissenschaftler, die am iranischen Atomprogramm beteiligt waren. Dies wird abschreckend wirken: Welcher Kernphysiker wird für die iranische Regierung arbeiten, wenn er weiß, dass er ein potenzielles Ziel ist? Eine weitere Überraschung war die völlige Hilflosigkeit der iranischen Luftverteidigung, die entweder durch Kommandos am Boden (was erneut die Qualität der israelischen Agenten unterstreicht) oder durch die israelische Luftwaffe ausgeschaltet wurde. Dies war ein umfassender Angriff (der noch andauert), der mit erstaunlicher logistischer und operativer Präzision durchgeführt wurde. 

Schließlich unterstützen Israels Präsident Herzog, Oppositionsführer Yair Lapid, Naftali Bennett und Benny Gantz all diese Angriffe. Die Vorstellung, dass nur Netanjahu diese Angriffe unterstützt, ist schlichtweg falsch. Es bleibt abzuwarten, wie sich diese anhaltende Situation entwickeln wird – aber im Moment hat Israel einen enormen taktischen Vorteil. Wir befinden uns jedoch erst in den ersten Zügen eines gewaltigen geopolitischen Schachspiels.