Ralph Schöllhammer: Mangelnde Männlichkeit
Die Männlichkeit steckt in einer Krise, von der die Frauen nicht profitieren werden, so lange sich junge Männer aus patriarchalen Gesellschaften nicht in unsere post-maskuline Gesellschaft integrieren und diese als schwach wahrnehmen. Schuld ist auch die Gesellschaft, weil sie das Bild einer positiven Männlichkeit längst aufgegeben hat, kommentiert Ralph Schöllhammer.
Am 6. Dezember 1989 ereignete sich das sogenannte „Massaker von Montreal“ in Kanada. Marc Lepine marschierte bewaffnet in ein Klassenzimmer des Ecole Polytechnique in Montreal, forderte die Männer auf den Raum zu verlassen, und ermordete anschließend 14 Studentinnen. Die Männer standen währenddessen vor der Türe und unternahmen nichts. Selbst als als die ersten Schüsse fielen und die Kommilitoninnen regelrecht hingerichtet wurden, fand sich kein Mann, der zumindest versucht hätte einzugreifen. Später rechtfertigten sie sich, dass man sich in solch einer Situation keinen Heroismus erwarten dürfe.
Sechsundzwanzig Jahre später kam es am 31. Dezember 2015 zur Silvesternacht von Köln, mit über 1200 sexuellen Übergriffen und 24 angezeigten Vergewaltigungen – und auch hier entschied man sich kein Heldentum zu erwarten und empfahl den Männern im Falle eines Übergriffes auf Frau oder Freundin diesen mit dem Handy zu filmen um die Täter später auszuforschen. Dominierendes Thema in den Tagen danach war der Migrationshintergrund vieler Täter, aber es wurde kaum über die ebenfalls anwesenden Männer ohne Migrationshintergrund gesprochen, welche anscheinend allem hilflos zusehen mussten.
Soziale Normen machten Männer zu Helden
Der in Harvard lehrende Philosoph Harvey Mansfield hat 2006 ein Buch mit dem Titel „Männlichkeit“ veröffentlicht in dem er argumentierte, dass auch traditionell westliche Rollenbilder, wie die britische Idee des „Gentleman“ eine Rolle in der zivilisierten Gesellschaft zu spielen haben. Wie zu erwarten war das Feuilleton außer sich über Mansfields angebliche Verteidigung des Patriarchat und seinen Wertvorstellungen von vorgestern. Es wisse doch jeder, dass in den westlichen Gesellschaften vor allem toxische Maskulinität das Kernproblem darstellt, und jede Ermutigung eines positiven Konzepts der Männlichkeit würde diese Situation nur verschlimmern.
Ich wäre mir da jedoch nicht so sicher. Eine der faszinierendsten Statistiken ist jene über die Zusammensetzung der Überlebenden der Titanic. Während 80 Prozent der Männer mit dem Schiff untergegangen sind, überlebten 52 Prozent der Kinder und 74 Prozent der Frauen. Nicht jeder Mann auf der Titanic war ein Held, aber die soziale Norm war, Frauen und Kindern vor den Männern die Rettungsboote zu überlassen. Der Tränendrüsendrücker „Titanic“ zeichnete natürlich ein völlig anderes Bild – weshalb sich Regisseur James Cameron später auch zu einer Entschuldigung genötigt sah. Cameron und die Männer von Köln und Montreal sind offensichtlich mit anderen sozialen Normen aufgewachsen. Vielleicht mit jenen des Kapitäns der Costa Concordia, des italienischen Kreuzfahrtschiffes welches 2012 im Mittelmeer leck schlug und 32 Menschen das Leben kostete. Der Kapitän war nicht darunter, er konnte sich als einer der ersten in ein Rettungsboot retten. Vielleicht waren es aber auch die Normen der MV Estonia, einer Fähre die 1997 in der baltischen See gesunken ist. Die Augenzeugenberichte dieses Unglückes kommen dem, was Cameron in „Titanic“ zeigt wesentlich näher: „Eine Frau hatte sich die Beine gebrochen und flehte man möge ihr eine Rettungsweste geben – aber es war das Gesetz des Dschungels.“ Ein anderer Augenzeuge beschreibt, wie er „über weinende Kinder stieg“, um zu den Rettungsbooten zu gelangen. Von den 1051 Passagieren überlebten 139 – darunter keine einzige Frau unter 15 oder über 65. Nur fünf Prozent aller Frauen überlebten, während es bei den jungen Männern über 40 Prozent waren.
Über weinende Kinder zu steigen, um sich selbst zu retten, wäre kaum einem Mann auf der Titanic eingefallen, und er hätte wahrscheinlich auch einem Femizid auf einer kanadischen Universität nicht tatenlos zugesehen.
Die Gesellschaft hat die Idee einer positiven Männlichkeit aufgegeben
Der viel kritisierte, jedoch viel zu wenig gelesene, kanadische Autor und Psychologe Jordan Peterson weist schon seit Jahren darauf hin, dass es in westlichen Gesellschaften eine Krise der Männlichkeit gibt, da sich diese nicht mehr in gesunden Bahnen entwickeln kann. Und es stellt sich zunehmend die Frage, ob Frauen tatsächlich die Profiteure dieser Krise sein werden. Es darf angezweifelt werden, ob sich junge Männer aus tatsächlich patriarchalischen Gesellschaften freiwillig in eine post-maskuline Gesellschaft integrieren werden, oder ob diese einfach als schwach wahrgenommen wird und sich traditionelle Rollenbilder noch mehr verfestigen, als dies in den Herkunftsländern der Fall war. In ihrem jüngsten Buch „Beute“ beschreibt Ayaan Hirsi Ali eindringlich den Zusammenhang zwischen männlicher Massenmigration nach Europa und der Zunahme sexueller Übergriffe. Aber möglicherweise sind nicht nur die Täter das Problem, sondern auch eine Gesellschaft, die jegliche Idee einer positiven Männlichkeit aufgegeben hat.
Vielleicht spricht hier der (noch nicht ganz so) alte weiße Mann in mir, aber ich bevorzuge eine Gesellschaft mit den Normen der Titanic und nicht jenen der MV Estonia – und ich glaube den meisten Frauen geht es ähnlich.
Ralph Schöllhammer ist Assistenzprofessor für Volkswirtschaftslehre und Internationale Beziehungen an der Webster Privatuniversität Wien. Auf Twitter unter @Raphfel sowie auf seinem Podcast “The Global Wire” kommentiert er regelmäßig das globale wirtschaftliche und politische Geschehen.
Kommentare