Begonnen hat es mit dem Niedergang des Kommunismus. Die Warschauer-Pakt-Staaten implodierten vor drei Jahrzehnten. Die Marxisten im Westen hatten in wenigen Monaten ihre politische Heimat verloren. Es blieben zwar einige weltfremde Kommunisten an den amerikanischen und europäischen Hochschulen übrig, aber sie wurden nur noch an den eigenen Stammtischen ernst genommen.

Repressive Toleranz

Nach der Demontage von Marx & Co mussten neue Ideologien gebastelt werden. Einer der eifrigsten Erfinder war der Philosoph Herbert Marcuse. 1965 erschien sein Essay „Repressive Toleranz“, das bis heute nachwirkt. Marcuse beschrieb die Toleranz als Instrument der Unterdrückung. Toleranz sei in Wahrheit ein Werkzeug der Mächtigen, Knechtschaft freizusprechen. Ein Marcuse-Epigone, der amerikanische Universitätsprofessor Stephen Brookfield, forderte sogar, den weißen „mainstream“ aus den Schulen zu verbannen, weil alles außer weißem Wissen als exotisch belächelt würde.

Eine weiterer ideologischer Kunstgriff der Linken war der Konstruktivismus, der sich in „fortschrittlichen“ Szenen bis heute großer Beliebtheit erfreut. Die Sprache der Konstruktivisten ist umständlich. Die radikalen Konstruktivisten bestreiten, dass wir Menschen in der Lage sind, objektive Realität zu erkennen. Diese Idee ist alt und bekannt, aber der Konstruktivismus geht weiter. Diese Ideologie lehnt alles Absolute ab und ist daher mit den Naturwissenschaften inkompatibel. Die Lichtgeschwindigkeit, die elektrische Elementarladung und viele andere Naturkonstanten können überall unabhängig gemessen werden, sind also universell und nicht konstruiert.

In den Neunzigerjahren bemerkte ein prominenter New Yorker Physiker diese merkwürdigen Umtriebe und schrieb (absichtlich) einen haarsträubend dummen Artikel, den die Zeitschrift „Social Text“ tatsächlich veröffentlichte. Im Artikel wird behauptet, dass uns die Naturwissenschaften etwas vorgaukeln und dringend von der Gesellschaft kontrolliert werden müssten. Die Begeisterung in den Gesellschaftswissenschaften – und zwar weltweit – war unbeschreiblich. Als sich der Aufsatz als bissige Satire auf den Konstruktivismus herausstellte, war die Blamage perfekt.

In den Neunzigerjahren wuchs das Internet blitzartig an. Zu Beginn war es linear, wie es das Fernsehen heute noch ist. Ein Webmaster machte bunte Seiten, speicherte sie auf einem Server, und die Konsumenten bewunderten die Inhalte. Um die Jahrtausendwende breiteten sich neue Programmiersprachen aus. Sie ermöglichten nun auch den bisherigen Lesern das Schreiben. Die ersten Anwendungen waren Internet-Gästebücher.

Twitter

Einige Genies in den USA erkannten die neuen Möglichkeiten und entwickelten Ideen, die zum Entstehen von Google, Facebook, Twitter und anderen Giganten führte. Jeder, der Zugang zu einem PC mit Internetanschluss hatte, konnte nun kluge und dumme Gedanken samt den dazugehörigen Bildern in die Welt hinausblasen. Twitter wurde eine der Hauptbühnen. Zuerst war es eine offene Diskussionsplattform, doch dann wurde der Ruf nach Blockwarten und Inquisitoren immer lauter. Es kam allmählich zu einer Zensur bürgerlicher Meinungen, was langsam, aber unerbittlich zur „cancel culture“ führte. Einknicken vor Neojakobinern wurde zum Volkssport.

Vor einem halben Jahr veröffentlichte die New York Times einen Kommentar mit der Überschrift „Amerikas Problem mit der Meinungsfreiheit“. Darin heißt es, dass das fundamentale Recht der Bürger auf Meinungsfreiheit gerade den Bach abgeht. Das in Demokratien selbstverständliche Recht, öffentlich seine Meinung zu äußern, ohne Angst vor Beschimpfung oder gar Bedrohung haben zu müssen, sei so gut wie verschwunden. Im gleichen Artikel wurde eine aktuelle Umfrage erwähnt. 84 Prozent (!) der Amerikaner sind überzeugt, dass manche Bürger ihr Recht auf freie Meinungsäußerung nicht mehr ausüben können, weil sie Angst haben. 55 Prozent der Amerikaner geben zu, schon einmal den Mund gehalten zu haben, weil sie böse Kritik, Vergeltung oder sogar den Ruin fürchteten.

Das Erstaunliche am Erfolg der neuen Revolutionsgarden ist, dass ihre dem Konstruktivismus zugrundeliegenden Ideologien ein „Doublethink“ erfordern. Der Ausdruck stammt aus dem Roman „1984“ von George Orwell und wird mit „Doppeldenk“ oder „Zwiedenken“ übersetzt. Es geht darum, eine Behauptung und ihr Gegenteil gleichzeitig für wahr zu halten. Sehen wir uns nur sieben Bereiche an:

Sie behaupten, dass alle Menschen gleich und Verschiedenheiten nur Konstrukte seien, beklatschen aber „Diversität“;
Sie beseitigen Straßennamen, die mit Nationalsozialisten in Zusammenhang stehen könnten, errichten aber für den psychopathischen Mörder Che Guevara in Wien ein Denkmal;
Sie fordern eine Bildungspolitik mit Chancengleichheit, wollen aber Ergebnisgleichheit und umschreiben das mit dem nebulösen Wort „Bildungsgerechtigkeit“;
Sie verurteilen den „Hass von rechts“, verbreiten aber selber falsche Anschuldigungen. Nicht nur Heinz-Christian Strache wurde durch diesen Hass erledigt;
Sie treten für Frauenrechte ein, fordern aber Toleranz gegenüber dem Islam;
Sie erfinden eine bizarre Gendersprache um „Frauen sichtbar zu machen“, behaupten aber, dass Geschlechter nur gesellschaftliche Konstrukte (also Erfindungen) sind. Man soll also sichtbar machen, was es angeblich gar nicht gibt.
Sie reden von Weltoffenheit, meinen aber die beschränkte Toleranz des Herbert Marcuse.

Strategie von Idioten

Zurzeit klingt wegen der Übernahme von Twitter durch Elon Musk ein herzzerreißendes vorweihnachtliches Dschingelgebell um den Erdball, denn die Neojakobiner haben eine Heidenangst vor Meinungsfreiheit. Über all dem schwebt das Zitat, das dem kanadischen Philosophen und Medienwissenschaftler Herbert Marshall McLuhan zugeschrieben wird: „Moralische Empörung ist die Strategie von Idioten, sich selbst Würde zu verleihen.“ McLuhan starb im Dezember 1980. Vom heutigen Empörungs- und Zensurirrsinn ahnte er nichts.