Die Meldungen häufen sich, wonach junge Menschen in Europa allmählich verzweifeln angesichts der Inflation, des Kriegs in der Ukraine, des schaurigen Niveaus mancher Politiker, der langsamen und alles erdrückenden Bürokratie, der zu hohen Steuern und anderer Misslichkeiten. Katastrophen hat es immer schon gegeben. Das griechischen Wort katá bedeutet nach unten, stréphein heißt wenden. Eine Katastrophe ist eine Wendung nach unten, aber noch nie war eine Katastrophe trotz aller Opfer, trotz aller Trauer, trotz aller Verluste eine endgültige. Danach ging es immer wieder aufwärts.

Wer von uns stolzen weißen Cis-Frauen und Männern sagt das unserer Jugend, die nach Corona und Krieg den Mut zu verlieren scheint? Vielleicht ist es hilfreich, ihnen zu erklären, dass nach der Wendung nach unten tatkräftige Facharbeiter, freie Radikale, aber keine Gesellschaftserklärer benötigt werden.

Freie Radikale sind freiheitsliebende Zeitgenossen und MINT-Menschen, also das Gegenteil von Ideologen und Genderisten. So genannte MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) umweht leider immer noch eine mystische Aura. Österreicher sind skeptisch, wenn es um Naturwissenschaften geht. Unser Land schneidet bei den Umfragen zur Einschätzung von Wissenschaft und Technologie im internationalen Vergleich traditionell schlecht ab. Im Rahmen der Eurobarometer-Umfragen, ob naturwissenschaftliche Grundlagenforschung von der Regierung unterstützt werden sollte, belegte Österreich regelmäßig die hinteren Plätze.

Stillstand

Naturwissenschaftler und Techniker werden seit Jahrhunderten von Dogmatikern, Esoterikern und Ideologen kritisiert oder zu unterdrücken versucht. Besonders deutlich zeigt das die Geschichte des Islam. Die Araber und Babylonier waren bis zum Mittelalter MINT-Länder. Dann kam der Islam mit seinen Dogmatikern. Als Columbus in der Karibik an Land ging, als Leonardo da Vinci seine naturwissenschaftlichen Studien betrieb, als die europäische Renaissance die Wissenschaften und Künste voranzutreiben begann, erlahmte in den arabischen Ländern das Streben nach Wissen. Es kam schließlich zum Stillstand, als moslemische Theologen das Studium der Religion und des islamischen Rechts zum einzigen wahren Weg erklärten. Als Europa zum großen Sprung nach vorne ansetzte, erlebte der Islam einen Rückfall.

Das Verhältnis der Kirche zu den Wissenschaften wird gerne auf die Fälle Roger Bacon (Gefängnis), Giordano Bruno (Scheiterhaufen) und Galileo Galilei (Hausarrest) reduziert, aber das waren Missgriffe der Inquisition und ihrer – großteils anonymen – Denunzianten, die heute mehr denn je ihr Unwesen treiben. Der Theologe Thomas von Aquin hatte bereits im Hochmittelalter zwischen diesseitigem und jenseitigem Wissen unterschieden und den weltlichen Wissenschaften seinen Segen gegeben. Das war der Startschuss zum Aufstieg Europas zu einer globalen wissenschaftlichen und kulturellen Supermacht. Europa mit seinen genialen weißen Cis-Frauen und -Männern wurde der erste Kontinent der freien Radikalen.

Maßnahmen gegen freie radikale Denker waren langfristig vergeblich. Astronomen wurden eingesperrt (Galilei), Chemiker von einem Revolutionsmob geköpft (Antoine de Lavoisier), Biologen von Ignoranten angefeindet (Charles Darwin) und Kommunisten ließen missliebige Wissenschaftler im Gefängnis verhungern (Nikolai Wawilow). Die freien Radikalen ließen sich trotz allem nicht aufhalten.

Radikale Ideologen

Es wurde auch in Europa mehrmals vergeblich versucht, Naturwissenschaften in ein schiefes Licht zu rücken. Der Großkapitalist Friedrich Engels, der mit seinem Geld seinen Freund Karl Marx unterstützte, versuchte in seinem wenig beachteten Werk „Dialektik der Natur“ physikalische Gesetze durch eine banale Metaphysik zu ersetzen. Engels „entlarvte“ die Wissenschaften und raunte eine „bourgeoise“ Physik herbei, nicht ahnend, dass alle Ideologien immer zu verenden pflegen – nicht ohne Anrichtung größerer Schäden.

Unruhestifter und Betrüger

MINT-Menschen, Techniker und mit ihnen viele (nicht alle) Kunstschaffende, zählen zu den emanzipierten Menschen. In dem Labor, in dem ich seinerzeit arbeitete, nannten wir das Markieren und gezielte Rekombinieren von Chromosomen „Rock ‘n Roll“. Niemand mischte sich ein, schon gar nicht Ideologen. Freie Radikale ließen sich nie von ideologielastigen „Denkern“ auf eine Linie zwingen, vor allem, weil Ideologen in der Regel Betrüger sind, die gar nicht wissen wie sich Freiheit in der Wissenschaft anfühlt. Freie Radikale haben sich am Ende immer durchgesetzt. Andernfalls gäbe es keine Quantenphysik, keine Biochemie, keine Chirurgie und keine Weltraumteleskope.

Es existieren nach wie vor freie Radikale, aber es gibt zu wenige. Wir benötigen mehr engagierte freie Radikale aber auch Facharbeiter, die sich abwegigen Trends offen entgegenstellen, wie etwa dem Genderismus und anderen Pseudowissenschaften samt ihren sprachlichen Entleerungen. Noch peinlicher als Vertreter von Pseudowissenschaften sind nur Politiker, die uns weismachen wollen, dass es Korruption nur rechts der politischen Mitte gibt, in der Folge inquisitorische Untersuchungsausschüsse betreiben, dabei unfreiwillig ein unterirdisches Niveau zeigen und in kindlicher Weise darauf sogar stolz sind.

Starke und verlässliche Renegaten werden dringend benötigt, denn Europa wurde fast zu Tode gemerkelt. In einer Welt eingeschränkter Meinungsfreiheit muss der Typus des frechen Ketzers, des stolzen Facharbeiters und des freien Radikalen neu zum Leben erweckt werden. Wir geben die Hoffnung nicht auf. Wir schaffen das.

Rudolf Öller ist promovierter Genetiker der Universität Tübingen und seit Jahrzehnten sowohl als Kolumnenschreiber als auch als Buchautor publizistisch tätig. Öller ist gebürtiger Oberösterreicher, hat in AHS und BHS Naturwissenschaften und Informatik unterrichtet und war ehrenamtlicher Rettungssanitäter, Blaulichtfahrer und Lehrbeauftragter beim Roten Kreuz. Er lebt heute in Vorarlberg.