Im Ukraine-Krieg fallen die Entscheidungen in Washington und Moskau, die EU schwimmt mit. Teilen Sie diesen Eindruck?

Ich würde Europa und die EU unterscheiden. Das Problem: Europa schafft es nicht, seine Außen- und Sicherheitspolitik zu koordinieren. Dadurch wird Europa zum Junior Partner der USA degradiert. Das liegt meiner Meinung nach vor allem an den fehlenden Verteidigungs- und Abschreckungsmöglichkeiten Europas. Uns fehlt die militärische Kapazität um handelnde Partei im Ukraine-Konflikt zu sein.

Europa hat sich hier primär auf die USA verlassen?

Jein. Auf der einen Seite hat es nicht selber aufgerüstet, auf der anderen Seite war eine gewisse Naivität vorherrschend. Man glaubte: Uns kann nichts passieren, es gibt ewigen Frieden und nie wieder Krieg in Europa.

Europa war naiv, sagt Michael von Liechtenstein. Es dachte, wenn es nett zu Anderen ist, dann gibt es keinen Krieg mehr.

Man hätte Russland vorher ein Signal geben müssen

Die Ukraine will mit Moskau verhandeln, sofern sich Russlands Truppen vollständig aus der Ukraine zurückziehen. Ist das der richtige Zugang?

Natürlich kann man bei so brutalen Verhandlungen nicht sagen: Wenn ich nett zu euch bin, werdet Ihr nett zu mir sein. Das funktioniert nicht. Man muss mit einer Maximalforderung hineingehen, oder zumindest vorher sagen: Das ist unser Ziel.

Nun ist die Lage sehr verfahren. Zu all dem wäre es nicht gekommen, hätte es vorher das Signal an Russland gegeben: Wenn Ihr diese rote Linie überschreitet, dann kracht es. Auch Russland hat sich verschätzt mit Blick auf seine eigenen Fähigkeiten, die Widerstandsbereitschaft der Ukrainer und ein wenig auch die Reaktion der Europäer.

Ob die Sanktionen Putin in die Knie zwingen? Militärische Abschreckung wäre wirksamer und billiger gewesen, sagt Michael von Liechtenstein.APA/GETTY

Wie soll Europa künftig mit Russland umgehen?

Europa muss mit einem Nachbarn zusammenleben, der ganz andere Interessen hat, etwa mit Blick auf Asien, und eine ganz andere politische Kultur hat. Das wird sich wohl nicht ändern. Europa kann mit Russland zusammenleben, aber es braucht dafür eine ganz starke Verteidigung und militärische Kooperation innerhalb Europas. Aus einem Gutmenschentum heraus wurden die dafür nötigen Grundlagen vernachlässigt, etwa eine Rüstungsindustrie.

Diese funktioniert auch nur in Zusammenhang mit Waffenexporten. Hier müssen wir die Scheuklappen ablegen. Bisher hat man irrigerweise geglaubt: Wenn ich gut zu den Anderen bin, sind es auch die Anderen zu mir.

Eine Koalition williger Staaten statt einer europäischen Armee

Wie sollte die militärische Kooperation funktionieren? Es gibt ja keine europäische Armee.

Eine Koalition williger Staaten wäre wohl realistischer als eine europäische Armee unter einem europäischen Staat, den nicht alle wünschen und der auch derzeit nicht realistisch ist.

Ich sehr drei militärische Aufgaben bzw. Bedrohungen für Europa. Erstens den Osten: Hier muss Europa auf gleicher Augenhöhe mit Russland sein und seine Grenzen sichern. Dann braucht es zweitens die Verteidigungsbereitschaft samt Möglichkeiten zu Interventionen im Süden. Drittens müsste Europa auch global auf den Weltmeeren tätig sein, um die europäischen Interessen im Handel zu verteidigen. Das können wir nicht an die Amerikaner outsourcen, denn dann sind wir abhängig.

Deutschland hätte in den vergangenen Jahren besser in seine Bundeswehr investieren sollen. Doch unter Kanzlerin Angela Merkel ist das nicht geschehen.

"Um Moralismus zu verbreiten, braucht es weniger Anstrengungen"

Manche meinen zurzeit: Europas Abhängigkeit von den USA belastet mehr die Partnerschaft mit den USA.

Das ist nicht unrichtig. Wenn Europa stark in der Verteidigung ist, wird Europa dennoch mit den USA in wesentlichen Dingen Interessensgleichheit haben, die dann gestärkt würde. Europa könnte dann sowohl mit Russland als auch mit den USA handeln.

Innerhalb Europas bestehen unterschiedliche Traditionen – die Briten und der Common Wealth, Spaniens und Portugals Beziehung zu Lateinamerika, der Donauraum etc. Erschwert das eine gemeinsame Außenpolitik?

Ich würde das als Stärken ansehen, wenn wir sie richtig nützen. Mit Gleichmacherei wie bisher werden wir aber nicht weiterkommen. Auch in den USA sind die Interessen ganz verschieden, je nachdem ob Sie in Washington und New York oder in der Westküste sind. Eines wird nicht mehr klappen: Dass wir moralisierend durch die Welt gehen.

Sie fordern mehr Realismus?

Ja. Dass wir zu unseren Werten stehen, ist gut. Aber wir können nicht immer Anderen unsere Wertvorstellungen aufzwingen. Wir brauchen mehr Realismus. Um Moralismus zu verbreiten, braucht es halt weniger Anstrengungen.

Unternehmer, Gründer des in Vaduz ansässigen geopolitischen Beratungs- und Informationsdienstes Geopolitical Intelligence Services und Initiator von "Der Pragmaticus".

"Krieg kann man nur mit einer starken Abschreckung verhindern"

Wie sollte die militärische Kooperation in Europa aussehen?

Wir bräuchten eine Koalition der Willigen, wohl aus NATO-Staaten. Großbritannien ist nämlich unabdingbar, auch wenn es nicht mehr bei der EU ist. Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Polen müssten dabei sein, und eines der größeren Mittelmehrländer, also Italien oder Spanien. Das könnte als Kern gut funktionieren.

Das wird teuer. Werden die europäischen Länder bei ihren Wohlfahrtstaaten sparen müssen?

Das ist ganz klar. Man muss die Prioritäten setzen. Investments in die Rüstung hätten Europa aber vermutlich weniger gekostet, als die Sanktionen gegen Russland. Wenn Deutschland nach Russlands Aggression von 2014 entschlossen aufgerüstet und seinen Kampfwillen gezeigt hätte, indem es mehr Geld in Waffen steckt, dann hätte das mehr bewirkt als die Sanktionen.

Krieg kann man nur mit einer starken Abschreckung verhindern. Eine starke Armee ist wie eine Feuerversicherung. Hätte die Schweiz nicht sehr viel in ihr Militär investiert, wäre sie im Jahr 1940 von Nazi-Deutschland geschluckt worden. Doch damals hat Berlin gewusst, wie viel das kosten würde. Deshalb wurde die Schweiz nicht angegriffen.

Wie wirksam sind die Sanktionen?

Jetzt beginnen die Sanktionen, glaube ich, zu wirken. Nur Russland hat schon weitgehend auf Kriegswirtschaft umgestellt und ist somit bereit, auch Opfer zu bringen. Ich würde die Sanktionen nicht beenden, aber ich würde sagen: Der Westen hat ihre Wirksamkeit stark überschätzt. Militärische Stärke ist wirksamer als Sanktionen.