Im Jahr 2017 hielt der französische Präsident Emmanuel Macron an der Sorbonne eine viel kommentierte Rede, in der er seine Vision von Europa darlegte. Kurz gesagt stellte er die Europäische Union als einen konsolidierten Nationalstaat vor. Es war eine Blaupause für eine große französische Republik, mit einer dominierenden Verwaltung und zentralisierten Finanzen, insbesondere Schulden. Um dieses Ziel zu erreichen, schlug er arrogant eine zweigleisige EU vor, die aus einem Kern und einer Peripherie besteht.

EU als Vaterland der Vaterländer

In ähnlicher Form äußerte sich der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz zu seinen Vorstellungen Ende August an der berühmten Karls-Universität in Prag, der ersten Hochschule im ehemaligen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.

Die EU ist das Ergebnis eines wundervollen europäischen Integrationsprozesses. Sie wurde in erster Linie als „Vaterland der Vaterländer“ konzipiert, wie der ehemalige französische Präsident Charles de Gaulle es nannte: eine dezentrale Einheit, die es den Nationalstaaten ermöglicht, sich in verschiedenen Bereichen zu integrieren, insbesondere im Binnenmarkt, der so erfolgreich war. Außerdem sollte sie eine schlanke und daher effiziente europäische Verwaltung haben.

Der Markt wurde entfesselt

Die Integrationsanforderungen zwangen die Nationalstaaten sogar, ihre Teilnahme und ihr Engagement in der Wirtschaft zu begrenzen. Österreich ist ein typisches Beispiel dafür. Die Wirtschaft des Landes war durch überdimensionierte Verwaltungsprinzipien und große, verstaatlichte Unternehmen belastet. Die Regeln der Europäischen Gemeinschaft zwangen Wien zu Liberalisierungsschritten. Dadurch wurde der Markt entfesselt; viele innovative Unternehmen entstanden und trugen dazu bei, dass das Alpenland zu einem der wohlhabendsten Mitglieder der EU wurde.

Tradition des christlichen Erbes

Es ist nur logisch, dass die Europäer eng zusammenarbeiten, um weltweit wettbewerbsfähig zu bleiben – und das nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht. Europa ist ein Subkontinent mit einer großen Vielfalt an Völkern und Kulturen, die jedoch eines gemeinsam haben: eine Tradition des christlichen Erbes. Die Stärke dieses wunderbaren Teils der Welt liegt in dieser Kombination verschiedener Kulturen und Sprachen, die – unabhängig davon, ob sie religiös sind oder nicht – durch ihr gemeinsames christliches Fundament verbunden sind.

Politiker wollen ihre Agenden durchsetzen

Bundeskanzler Scholz bezeichnete den russischen Einmarsch in der Ukraine als „Zeitenwende“, als historischen Wendepunkt. Obwohl wir strategisches Denken respektieren und die Notwendigkeit der europäischen Integration anerkennen müssen, sollten wir uns auch einer Tatsache bewusst sein: Wenn Politiker anfangen, von „Wendepunkten“ zu sprechen, dient dies in der Regel dazu, eine bestimmte Agenda durchzusetzen.

Nur ein bequemer Vorwand?

Obwohl der Bundeskanzler einige gute Ideen vorschlug, schien er in seiner Rede vor allem für eine stark technokratische, zentralistische Agenda zu plädieren, die vielen Sozialisten so am Herzen liegt. Hier befand er sich weiterhin im Gleichklang mit Präsident Macron – mit der Ausnahme der Zweigleisigkeit.

Herr Scholz betonte eine stärkere gemeinsame europäische Verteidigung, um die Freiheit Europas zu schützen. Dies ist sicherlich notwendig, aber der Bundeskanzler blieb vage, was die Organisation und Verwaltung dieser Verteidigung angeht. Einzig bei der Luftverteidigung war er präzise.

Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist, ob Herr Scholz wirklich für eine stärkere europäische Verteidigung um ihrer selbst willen plädiert, oder ob er sie stattdessen als bequemen Vorwand sieht, um die Zentralisierungsagenda voranzutreiben – und gleichzeitig die Verantwortung für die Verteidigung aus den Händen seiner Regierung zu nehmen. Sowohl seine Partei, die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, als auch die Grünen, der wichtigste Koalitionspartner der Regierung, haben sich traditionell gegen eine Priorisierung der Verteidigung ausgesprochen. Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar hat Berlin in dieser Hinsicht wenig getan, außer Geld zu versprechen und Unterstützung anzubieten.

Zwei Probleme des Bundeskanzlers

Die europäischen Vorschriften zur Gewährleistung der budgetären Verantwortung, insbesondere der Vertrag von Maastricht, lassen keine gemeinsamen Schulden und Rettungsaktionen zu. Dieses Detail wurde bereits weitgehend ignoriert, aber Bundeskanzler Scholz betonte erneut, dass eine gemeinsame „Finanzierung“ (ein Euphemismus für Schulden) notwendig sei. In diesem Bereich gibt es illegale Absprachen zwischen den nationalen Regierungen, dem Europäischen Parlament und der Kommission. Aus politischen Gründen hat der Europäische Gerichtshof im Wesentlichen seine Unabhängigkeit aufgegeben und diesem Zustand zugestimmt.

Eine erzwungene Zentralisierung wird Europa schwächen, nicht stärken. Hier kommen wir zu dem wohl gefährlichsten Vorschlag. Scholz zufolge sollen die zentralen Institutionen die Befugnis erhalten, jene Länder – insbesondere Polen und Ungarn – finanziell zu benachteiligen, deren Justizsysteme als unzureichend erachtet werden. Die Rechtsstaatlichkeit ist von entscheidender Bedeutung, und die Justizsysteme sollten ordnungsgemäß funktionieren. Der Vorschlag des Bundeskanzlers hat jedoch zwei Probleme:

Erstens: Wenn ein rechtsstaatliches System verbindlich ist, muss es für alle Regierungen verbindlich sein, auch für die von Herrn Scholz. Doch in der oben erwähnten Schuldenfrage (um nur einen Bereich der Übertretung zu nennen) handelt seine Regierung eindeutig gegen europäische Regeln. Diese Tatsache wurde vom deutschen Bundesgerichtshof anerkannt, aber Berlin hat das Urteil ignoriert.

Zweitens ist es äußerst gefährlich, zentralen Institutionen zu erlauben, finanzielle Sanktionen aus „moralischen“ Gründen zu verhängen. Dies eröffnet Möglichkeiten für willkürliche und ideologische Entscheidungen.

Die Vision des Bundeskanzlers enthält viele gute Elemente, und auch ich würde mir wünschen, dass der westliche Balkan, die Ukraine, Moldawien und Georgien engere Beziehungen zum übrigen Europa knüpfen oder sich integrieren, wie auch immer der notwendige institutionelle Rahmen aussehen mag. Es hat jedoch den Anschein, dass es hier vor allem darum ging, eine stärkere Zentralisierung als Vorbedingung für diese Erweiterung zu fördern. Eine erzwungene Zentralisierung wird Europa schwächen, nicht stärken.

Europa braucht einen freiheitsorientierten Wiederaufbau

Europa braucht Integration, aber sie sollte auf der Stärke seiner Vielfalt beruhen. Ein „unvollständiges“ Europa, das Dezentralisierung und Subsidiarität respektiert, wird stärker sein als eine zentralisierte Technokratie. Europa braucht einen neuen, freiheitsorientierten Wiederaufbau. Eine europäische Verteidigungsorganisation wird notwendig sein, aber zumindest am Anfang wäre es vielleicht besser, wenn sie außerhalb der Brüsseler Institutionen eingerichtet würde.