Seinen Kommentar stellt Michel Houellebebq unter ein geliehenes Motto, und zwar:”Die gegenwärtige Situation bietet mir nichts ‘was nicht Anlass zu Zweifel und Unruhe’ wäre”, zitiert der Franzose Pascal. Houellebecq war nämlich darum gebeten worden, den “Brief der Generäle“ (ein offener Brief ehemaliger französischer Militärs, die im April wegen islamistischer Terroranschläge und einer zunehmenden Gewalt in den Vorstädten vor einem Bürgerkrieg warnten, Anm. der Red.), zu kommentieren. “Was an dem Skandal, der darauf folgte, am außergewöhnlichsten erscheint, ist, dass so wenige Leute die Vorannahme des Briefes infrage gestellt haben – dass Frankreich kurz vor dem Zusammenbruch steht”, so Houellebecq, der in der Folge aber dazu übergeht, zu erklären, dass es nicht nur sein Heimatland ist, das sich vor einem großen Scherbenhaufen wiederfindet ja. Aber damit stehe Frankreich längst nicht alleine da, meint der Literat.

"Wir haben es mit einem westlichen Selbstmord zu tun"

Houellebecq zufolge ist die gesamtliche westliche Welt davon betroffen. So schreibt er: “Nein, wir haben es in Wirklichkeit nicht mit einem „französischen Selbstmord“ zu tun – um den Titel des Buches von aufzugreifen –, sondern mit einem westlichen Selbstmord oder vielmehr mit einem Selbstmord der Moderne, weil auch die asiatischen Länder nicht davon verschont bleiben. Was daran spezifisch und auf authentische Art und Weise französisch ist, ist das Bewusstsein für diesen Selbstmord. Aber wenn wir den besonderen Fall Frankreichs für einen Moment beiseitelassen (und das wäre wirklich besser), erscheint die Schlussfolgerung glasklar: Die unvermeidliche Folge dessen, was wir Fortschritt nennen (auf allen Ebenen: wirtschaftlich, politisch, wissenschaftlich, technologisch), ist Selbstzerstörung.”

Neben der Tatsache, dass unsagbar viele Länder mit schwindenden Geburtentraten zu kämpfen haben (in Japan ist die Verzweiflung der Regierung über mangelnde Geburtenraten bereits so weilt angewachsen, dass Erotikfilme in der Hoffnung, Paare so zum Sex und damit vielleicht, womöglich, hoffentlich auch zur Fortplfanzung zu animieren, ins Tages-Fernsehprogramm aufgenommen worden sind ), habe auch das große Thema Migration das Zeug zum Mordinstrument, so Houellebecq: “Indem sie jegliche Form von Einwanderung ablehnen, haben sich die asiatischen Länder für einen einfachen Selbstmord entschieden, ohne Nebenwirkungen oder Beschwerden. Die südeuropäischen Länder befinden sich in der gleichen Situation, mit der Einschränkung, dass man sich fragen kann, ob sie diese bewusst gewählt haben. Die Migranten landen zwar in Italien, Spanien und Griechenland, aber sie sind nur auf der Durchreise, ohne nur das Geringste dazu beizutragen, das demografische Gleichgewicht wiederherzustellen, obwohl die Frauen in diesen Ländern oft supergut sind. Nein, die Migranten werden unwiderstehlich vom größten und fettesten Käse angezogen, den Ländern Nordeuropas”,  Houellebecq.

Amerika wird sich wieder in einen neuen Krieg stürzen

Auch Amerika kommt bei Houellebecqs Analyse nicht gut weg, auch wenn sie laut dem Schriftsteller “den Optimismus zum Prinzip”erhoben zu haben. Man kann allerdings daran zweifeln, dass diese Haltung gut begründet ist. Wenn Joe Biden behauptet, dass “Amerika wieder dazu bereit ist, die Welt zu führen”, dann interpretiert das sofort wie folgt: “Amerika wird nicht damit zögern, sich in einen neuen Krieg zu stürzen; wie immer wird es sich dabei wie ein Stück Scheiße verhalten; das wird dazu führen, dass es viel Geld verliert und gleichzeitig die quasi universelle Verachtung, die ihm entgegengebracht wird, verstärkt, was es China ermöglichen wird, seine Positionen zu stärken.”

Die linke Perspektive wird immer seltener verteidigt

Hollebecq erwähnt auch die “linke/progressive/humanistische Perspektive”, wie er sie nennt, die davon ausgeht, dass  es sich nicht um einen Selbstmord, sondern um “Regeneration “hamdle. Diese geht davon aus, dass die ethnische Zusammensetzung zwar verändert wird, aber im Wesentlichen alles andere gleich bleibe: “Unsere Republik (in Europa ist es übrigens meistens eine Monarchie), unsere Kultur, unsere Werte, unser ‘Rechtsstaat’ und all das. Ich höre manchmal (wenn auch immer seltener), dass diese Perspektive verteidigt wird”, so der Franzose, der auch erneut ein Beispiel aus seinem Heimatland aufführt: Laut einer aktuellen Umfrage glauben 45 Prozent der Franzosen an einen bevorstehenden Bürgerkrieg. Für Houellebecq einmal mehr der Beweis, “dass Frankreich irgendwie immer noch eine Nation von Maulhelden ist.”

Mangelnde Substanz: Worauf können wir noch stolz sein?

Und weil zum Krieg “immer zwei gehören”, stellt sich Houellebecq die Frage, wofür die Franzosen – und in Wahrheit die gesamte westliche Welt – noch kämpfem will. “Werden die Franzosen zu den Waffen greifen, um ihre Religion zu verteidigen? Sie haben schon seit geraumer Zeit keine Religion mehr, und ihre frühere Religion ist eine, bei der man seine Kehle dem Schlachter anbietet”, so der Schriftsteller. Und wenn nicht für ihre Religion, wofür kämpfen die Franzosen dann?

“Wäre es dann ein Krieg zur Verteidigung ihrer Kultur, ihrer Lebensweise, ihres Wertesystems? Aber wovon genau sprechen wir dabei? Und wenn es sie gibt, lohnt es sich dann, sie zu verteidigen? Hat unsere „Zivilisation“ wirklich noch eine Substanz, auf die wir stolz sein können?”, stellt Houellebecq kurz vor seiner Conclusio Fragen über Fragen. Und die Schlussfolgerung: ” Europa scheint mir an einem Scheideweg zu stehen. Pascal zu lesen, hilft mir sehr: Aber genau wie er sehe ich ‘nichts, das nicht Anlass zu Zweifel und Beunruhigung’ wäre” endet der Literat mit einer sehr nachdenklichen Note.