Einen Guerillakrieg in der Ukraine würde Russland auf Dauer verlieren, meinte der israelische Militärhistoriker Martin van Creveld vor Beginn der russischen Invasion. Doch nun bleibt ein solcher Häuserkampf aus. Die zahlreichen Waffen, um die bisher die Ukraine den Westen bittet, laufen auf einen konventionellen Krieg hinaus, und genau der sei für das Land kaum zu gewinnen, sagt der renommierte Analytiker.

„Jetzige Strategie das Rezept für Niederlagen“

Creveld hatte bereits vor der Ukraine-Invasion hellsichtig prognostiziert: Sobald sich Putins Truppen zurückziehen, steht ihr Einmarsch in Wahrheit bevor. So kam es auch. Wenige Tage später verkündete Moskau den Truppen-Rückzug, nur um in der anschließenden Woche die Invasion zu starten.

Der Krieg laufe nun auf die Konfrontation „Panzer gegen Panzer, Geschütz, gegen Geschütz, Flugzeug gegen Flugzeug“ hinaus. Martin van Creveld hält das für katastrophal für die Ukraine: „Angesichts der Tatsache, dass auf eine ukrainische Salve zehn russische kommen, kann eine solche Strategie eigentlich nur das Rezept für eine Niederlage sein.“

Auf einen Sieg Russlands stellt sich Creveld mittlerweile auch ein. Er nennt in der „Welt“ dafür noch vier weitere Gründe.

Martin van CreveldGetty

Putins jetzige Strategie ähnelt jener Stalins 1939 gegen Finnland

Russland hatte zunächst einen missglückten Start. Doch dann wechselte Putin seine Top-Generäle aus und mit ihnen seine Strategie. Es „folgten Umgruppierung und systematische Schwächung ukrainischer Städte und Siedlungen – vergleichbar mit dem Vorgehen Stalins und seiner Generäle 1939/40 in Finnland.“ Somit verlegte sich das Land auf seine „traditionell mächtigste Waffe – den massiven Artillerieeinsatz“. Damit dürften die russischen Truppen ihre Verluste zurzeit ausreichend reduziert haben.

Ein dritter Grund seien die Nachschubprobleme bei Waffen: Nachdem Europa verteidigungspolitisch jahrelang auf Sparflamme gelebt hat, könne es den Ukrainern nun nicht ausreichend Waffensysteme anbieten. Wichtig sei überdies, „dass die Russen vor ihrer Haustür kämpfen, die Kommunikationslinien der NATO sich aber über Hunderte von Kilometern erstrecken“. Das flache, dünn besiedelte Terrain von den Grenzen der Ukraine zu Polen, der Slowakei und Rumänien „bietet sich für den Einsatz der (russischen, Anm.) Luftwaffe an“.

Russlands Widerstandskraft vs. massive Kriegsfolgen für den Westen

Viertens erwies sich Russland in wirtschaftlicher Hinsicht bisher anscheinend als weit widerstandfähiger als vom Westen erwartet. Creveld verweist auf den im Wert gestiegenen Rubel – der eXXpress berichtete.

Im Dollarvergleich hat der Rubel ein Sieben-Jahres-Hoch erreicht. Einerseits profitiert Russland nach gestiegenen Energiepreisen vom Verkauf von Energie, Nahrungsmitteln und Rohmaterialien an China und Indien. „China ist im Gegenzug die Industriemacht Nummer eins“. Nach Überwindung der Covid-19-Probleme sollte das Land „in der Lage sein, Russland mit allen notwendigen Industriegütern zu belieferen – und das für lange Zeit.“

Als fünften Grund führt Creveld die Konsequenzen des Kriegs für den Westen an: „Die ökonomischen Folgen des Krieges sind für den Westen viel schwerwiegender als angenommen. Die Ukraine vor den Klauen Russlands zu bewahren, ist weit schwieriger als die Afghanistan-Mission.“

Da Russland Europa zunehmend Energie verweigert, drohe „echte Not“. Daran werde sich auf absehbare Zeit nichts ändern. Die Konsequenz: Die wütenden Bürger werden ein Ende des Engagements ihrer Länder im Krieg fordern.

In einem langen Krieg stehen Russlands Chancen nicht schlecht

Aus all diesen Gründen rechnet Creveld nicht mehr mit einem „Vietnam“ für Russland in der Ukraine. „Noch ist all das nicht ausgemacht“, räumt er ein. „Doch wie die wachsende Zahl von Stimmen, die darauf hinweisen, dass dieser Krieg ein langer wird, zeigt, geht es nun um die Frage, wer am tiefsten Luft holt und am längsten aushält. Und was das angeht, stehen Russlands Chancen nicht schlecht.“

Die „wiederholte, öffentliche Beschlagnahmung von Besitz sogenannter Oligarchen“ kritisiert Creveld ebenfalls: „Zunächst einmal: Niemand weiß, was ein Oligarch ist.“ Nur weil er im Kontakt mit Putin stand, sei er noch kein Krimineller. Und wenn er tatsächlich einer ist: Warum hat man ihn dann vor dem Kriegsausbruch so lange in Ruhe gelassen? „Könnte es sein, dass der Westen hier seine gerechte Sache unterminiert?“

Martin van Creveld wurde 1946 in Rotterdam geboren und wuchs in Israel und England auf. Er ist emeritierter Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem und einer der weltweit einflussreichsten und bekanntesten Militärhistoriker.

Van Creveld hat Verteidigungseinrichtungen zahlreicher Regierungen einschließlich jener der USA, Kanadas und Schwedens beraten und an praktisch jedem Institut, das sich mit strategischen militärischen Studien beschäftigt, Vorträge gehalten und gelehrt. Er ist häufiger Gast bei CNN, BCC und anderen internationalen Medien und hat darüber hinaus Artikel für Hunderte von Zeitschriften verfasst, einschließlich “Newsweek” und “International Herald Tribune”. Seine vielen Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.