Jetzt, da der anfängliche Schwung verbraucht ist und durch Zermürbung (auf beiden Seiten) ersetzt wurde, ist es möglich, über den Ausgang des Krieges zu spekulieren, über den alle in den letzten Monaten gesprochen haben.

Also, los geht’s.

Ergebnis Nr. 1 – Die Ukraine kann die Russen vertreiben

Die Ukrainer setzen sich, unterstützt durch westliche Waffen und andere Formen der Hilfe, durch. Es gelingt ihnen, die Russen zu vertreiben und ihr erklärtes Ziel zu erreichen, nämlich die Wiedererlangung ihrer territorialen Integrität. Daraufhin werden Friedensgespräche aufgenommen, und alle gehen zufrieden nach Hause. Leider ist dieser Ausgang angesichts der kürzeren Kommunikationswege und der überlegenen Feuerkraft der Russen der unwahrscheinlichste von allen.

Martin van Creveld ist der bekannteste, lebende Militärhistoriker zurzeit.

Ergebnis Nr. 2 – Russland muss seine Politik ändern

Eine Variante dieses Ergebnisses ist die Möglichkeit, dass interne Entwicklungen in Russland zu einer Änderung der Politik führen. Einige von Putins Mitarbeitern, die über den mangelnden Fortschritt enttäuscht sind und sich Sorgen um die langfristigen Aussichten ihres Landes (und natürlich auch sich selbst) machen, putschen. Oder aber die Kombination aus widerstrebenden Truppen und der Unzufriedenheit der Bevölkerung zwingt sie zu einem Kurswechsel. Seit Monaten wird über dieses Szenario spekuliert, vor allem über die Möglichkeit, dass Putin durch Krankheit aus dem Amt gedrängt wird. Bislang ist jedoch noch nichts davon eingetreten.

Ergebnis Nr. 3 – Verlassen vom Westen muss die Ukraine mit Russland verhandeln

Da beide Seiten immer wieder Verstärkung schicken, kommt es zu einer Pattsituation. Beide Seiten beanspruchen Siege für sich, aber keine der beiden Seiten hat das Zeug, sich durchzusetzen. Dies ist in der Tat die jetzige Situation. Mit der Zeit beginnen aber die Bürger von mehr als einem NATO-Staat zu begreifen, welche wirtschaftlichen, sozialen und politischen Kosten die Unterstützung der Ukraine mit sich bringt. Kritische Stimmen verschaffen sich Gehör und können nicht mehr zum Schweigen gebracht werden. Sie bahnen sich ihren Weg von unten nach oben und bringen einen Teil der Führung dazu, sich zu fragen, wie lange das noch so weitergehen kann. Als sich die Unzufriedenheit ausbreitet, beginnen Kiews eigene Verbündete die ukrainische Führung unter Druck zu setzen. Auf diese Weise könnten die Verbündeten sogar beginnen, die Hilfe zu reduzieren oder zu verzögern. Man denke nur an den Rückzug der Amerikaner aus Vietnam (wo sie ihre südvietnamesischen Verbündeten im Stich ließen), aus dem Irak (wo sie 1991 dasselbe mit den Schiiten taten), aus Afghanistan (wo sie einfach abzogen) und erneut aus dem Irak. Ohne die Unterstützung des Westens sind die Ukrainer gezwungen, den für sie bestmöglichen Frieden zu schließen.

Ergebnis Nr. 4 – Russland unterwirft die Ukraine

Die Russen organisieren sich neu und setzen ihre gesamten Ressourcen ein, um ihre Offensive fortzusetzen. Sie versuchen nicht mehr, den Krieg mit einem einzigen mächtigen Schlag zu beenden. Sie gehen systematisch vor, setzen Artillerie ein, um ihre eigenen Verluste zu verringern, und greifen eine Stadt nach der anderen an, um sie zur Kapitulation zu zwingen oder, wenn das nicht gelingt, in Schutt und Asche zu legen. Die Ukraine bricht unter diesem Druck zusammen. Die Regierung ist gezwungen zu fliehen. Nun beginnen Terrorismus und ein Guerillakrieg, nur werden sie von den Russen niedergeschlagen, wenn auch um den Preis von fast unvorstellbarem Tod, Leid und Zerstörung. Wie man früher von den Römern sagte: „Sie schaffen eine Wüste und nennen das Frieden“ (Tacitus).

Ergebnis Nr. 5 – Guerillakrieg erzwingt Russlands Rückzug

Terrorismus und Guerilla nehmen ihren Lauf. Vor allem dank der Größe der Ukraine und der langen Grenzen zu den NATO-Ländern können sie jedoch ebenso wenig unterdrückt werden wie in vielen anderen Kriegen nach 1945. Es entsteht ein lang anhaltendes Chaos, das auf die Nachbarländer übergreifen kann. Wenn die Russen erkennen, dass der Krieg aussichtslos ist, ziehen sie sich schließlich zurück, wie es ihre sowjetischen Vorgänger 1988 in Afghanistan taten.

All dies kann nicht nur passieren, sondern auch in einer endlosen Anzahl von Kombinationen und Variationen. Die Wahrheit ist: Chi lo sa?

Martin van Creveld wurde 1946 in Rotterdam geboren und wuchs in Israel und England auf. Er ist emeritierter Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem und einer der weltweit einflussreichsten und bekanntesten Militärhistoriker. Er hat bereits vor der Ukraine-Invasion korrekt prognostiziert: Wenn Putin seine Truppen zurückzieht, fängt der Krieg wenig später an.

Van Creveld hat Verteidigungseinrichtungen zahlreicher Regierungen einschließlich jener der USA, Kanadas und Schwedens beraten und an praktisch jedem Institut, das sich mit strategischen militärischen Studien beschäftigt, Vorträge gehalten und gelehrt. Er ist häufiger Gast bei CNN, BCC und anderen internationalen Medien und hat darüber hinaus Artikel für Hunderte von Zeitschriften verfasst, einschließlich “Newsweek” und “International Herald Tribune”. Seine vielen Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.

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