Vor 20 Jahren ereignete sich 9/11. Waren Sie damals vom Terroranschlag überrascht?

Folgendes ist passiert – ich versichere es Ihnen, auch wenn ich keine Beweise dafür habe, abgesehen von ein paar Leuten, mit denen ich damals darüber gesprochen habe: Mein Buch “The Transfomation of War” (deutsch: “Die Zukunft des Krieges”) wurde 1991 inmitten des Ersten Golfkrieges veröffentlicht. Meine Hauptthese lautete, dass sich die reguläre Kriegsführung zwischen Staaten und Armeen im Niedergang befindet und die Zukunft zunehmend aus Guerillas und Terrorismus bestehen wird.

In den Folgejahren verlief der Verkauf des Buchs zunächst schleppend – und das ist kein Wunder. Einerseits kämpften damals 750.000 alliierte Soldaten mitsamt ihrer Ausrüstung gegen Saddam Hussein und seine ähnliche, wenn auch kleinere Armee. Andererseits behauptet dieser verrückte israelische Militärhistoriker, dass das, was die Welt erlebt, nicht der Beginn eines neuen Zeitalters, sondern das Ende eines alten ist. In Zukunft würden konventionelle Armeen mit ihren Flugzeugen, Panzern etc. weitgehend nutzlos sein. Da kam mir scherzhaft der Gedanke, Abu Nidal, den damals wichtigsten Terroristen, zu kontaktieren und ihm einen Deal anzubieten: Er würde das World Trade Center – ja, das World Trade Center! – in die Luft jagen, und ich würde 50 Prozent meiner danach steigenden Tantiemen mit ihm teilen.

Von der Skyline New Yorks war das World Trade Center nicht wegzudenken

Gegen Terroristen braucht man eine gemeinsame Front

Warum ausgerechnet das World Trade Center?

Wegen seines Status als Ikone westlicher Macht und westlichen Erfolgs, einen Status, den es lange vor 9/11 erreicht hatte.

Armeen im bisherigen Sinn helfen nicht mehr gegen den Terrorismus?

Es hat keinen Sinn, Fußball zu spielen gegen einen Feind, der Basketball spielt. Wenn man Leute wie die Taliban bekämpfen will, muss man sich ihrer Art zu kämpfen anpassen.

Ist es überhaupt möglich, einen Krieg gegen internationale Terrorgruppen zu führen?

Ja, vorausgesetzt, die verschiedenen “Anti-Terroristen” bilden eine gemeinsame Front und kooperieren miteinander. Aber das ist eine schwierige Forderung.

Zivilisationen bekämpfen einander auf diffuse Weise

Was waren Ihrer Meinung nach die wichtigsten Folgen von 9/11 für die Geopolitik?

Vor dem 11. September konnte man so tun, als sei der Terrorismus eine Form des Krieges, die nur sog. “Entwicklungsländer” betrifft, die nicht über die nötigen Mittel verfügen, um damit fertig zu werden. Nach 9/11 war jedem klar, dass es sich um ein globales Phänomen handelt, das in der Lage ist, die Welt zu erschüttern und sie vielleicht sogar zu zerstören.

Samuel P. Huntington sprach als erster vom Kampf der ZivilisationenWorld Economic Forum/swiss-image.ch/Photo by Peter Lauth

Hatte der US-Politikwissenschaftler Samuel Huntington recht, als er meinte, die Konflikte würden künftig nicht zwischen Ideologien, sondern Zivilisationen ausgetragen werden?

Ja und nein. Er hatte recht, als er schrieb, dass Menschen, die verschiedenen Zivilisationen angehören, unweigerlich über die wichtigsten Dinge, die unser Leben prägen, aneinandergeraten werden, etwa betreffend die Beziehungen zwischen Mensch und Gott, zwischen Männern und Frauen, Alten und Jungen, dem Öffentlichen und dem Privaten, der Regierung und dem Einzelnen und auch in Hinblick auf das, was gut und was böse ist. Solche Beziehungen, so schrieb er, sind in der Regel sehr alt und hartnäckig. Sie seien fast unausrottbar. Künftige Kriege würden daher nicht von Staaten, sondern von Zivilisationen geführt werden, die sich solchen Fragen voneinander unterscheiden.

So weit, so gut. Meiner Meinung nach hat er aber einen Fehler begangen, als er den Eindruck erweckte, dass jene Zivilisationen, die er im Auge hatte, Staaten ähneln würden – jede mit ihrer Hauptstadt, Regierung, Streitkräften etc. – und mehr oder weniger wie Staaten Krieg führen würden. Was er nicht mit ausreichender Klarheit gesagt hat, ist, dass Zivilisationen keine Staaten sind. Da sie weder über Regierungen noch über Generalstäbe oder Streitkräfte verfügen, neigen sie dazu, Kriege auf sehr viel diffusere Weise zu führen als Staaten. So diffus, dass man oft gar nicht von “Krieg” sprechen kann, sondern nur von Aufstand, Guerilla, Terrorismus etc.

Der Westen zweifelt, ob seine Zivilisation Bestand hat

Was waren die schwerwiegendsten Folgen von 9/11 für die “westlichen Gesellschaften”?

Der Anschlag hat viele Menschen im Westen aufgerüttelt und sie daran zweifeln lassen, ob jene stolze Zivilisation, die ihre Vorfahren und sie selbst spätestens seit der Renaissance aufgebaut haben, eine Zukunft haben wir. Ist das nicht gravierend genug?

20 Jahre nach dem 11. September scheint Al-Qaida mit der Machtübernahme durch die Taliban mächtiger denn je. Ein richtiger Eindruck?

Nicht unbedingt. Obwohl beide Organisationen muslimische Fundamentalisten sind, haben sie sehr unterschiedliche Ideologien. Insbesondere ist Al-Qaida viel internationaler, ja globaler ausgerichtet als die Taliban. Ihr Ziel ist der Sieg über alle Ungläubigen, nicht nur in einem Land. Sicherlich können die beiden Organisationen in begrenztem Umfang zusammenarbeiten. Es kann aber auch sein, dass sie sich gegenseitig bekämpfen.

Könnte Al-Qaida dennoch vom Sieg der Taliban profitieren? Ist Al-Qaida nun tatsächlich stärker als vor 20 Jahren?

Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Es scheint aber lange her zu sein, dass Al-Qaida etwas wirklich Wichtiges getan hat – in ihrem Fall: etwas, das tödlich ist.

Nach Osama bin Ladens Tod führte Aiman az-Zawahiri Al-Qaida weiterAPA/AFP/IntelCenter

Die Taliban haben fast keine militärische Stärke

Wie schätzen Sie die militärische Stärke der Taliban ein?

Militärisch sind sie so gut wie gar nicht stark: keine großen Verbände, kaum schwere Waffen (von den paar abgesehen, die ihnen die Amerikaner hintergelassen haben), keine logistische Organisation. Ganz zu schweigen von Weltraumressourcen, Computern und dergleichen. Ihre Stärke ist von ganz anderer Art.

Worin liegt ihre Stärke?

Es gibt verschiedene Schätzungen, aber die meisten schätzen sie auf 50 bis 60.000 Mann.

Der Afghanistankrieg war absolut notwendig

Waren die Kriege in Afghanistan und im Irak ein Fehler?

Der Afghanistankrieg war absolut notwendig. Keine Großmacht kann es sich leisten, sich so behandeln zu lassen, wie von Al-Qaida – mit Unterstützung der Taliban. Hätte George W. Bush nicht zurückgeschlagen, wären er und seine Partei sicherlich hinweggefegt worden.

Andererseits war der US-Angriff auf den Irak ein dummer Fehler, so dumm, dass ich mir persönlich nicht vorstellen konnte, dass er überhaupt stattfinden würde, bis er tatsächlich begangen wurde.

Was also hätten die USA nach 9/11 tun sollen?

Die Taliban in Grund und Boden bomben, nach 60 oder 90 Tagen den Sieg erklären und abziehen – natürlich mit der Drohung, notfalls zurückzukehren.

Am 16. Dezember 2001 besuchte US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld Truppen in AfghanistanAPA/AFP/POOL/PABLO MARTINEZ MONSIVAIS

Westlichen Armeen fehlt die Motivation

In Ihrem Buch “Wir Weicheier: Warum wir uns nicht mehr wehren können und was dagegen zu tun ist” argumentieren Sie, dass westliche Armeen seit 1945 schwächeren Gegnern meist unterlegen waren. Sind die Kriege im Irak und in Afghanistan ein Beispiel dafür?

In Anlehnung an das oben Gesagte ist “unterlegen” der falsche Begriff. Im Gegenteil: Kaum eine westliche Armee hat seit 1945 im Kampf gegen Guerillas und Terroristen nicht eine gewaltige Überlegenheit genossen: an Geld, an Organisation, an Ausbildung, an Technik. Um nur ein Beispiel dafür anzuführen, wie arm einige der Aufständischen waren: Robert Mugabes Zimbabwe African National Union – Patriotic Front (kurz: Zanu-PF) hatte zu Beginn des rhodesischen Unabhängigkeitskrieges nicht einmal genügend Geld, um Telefongespräche zu bezahlen. Daraufhin wandte sie sich an die Israelis, die sich nicht dazu herabgelassen haben dürften, zu antworten, wie einer meiner Studenten einmal recherchiert hat.

Woran sind westliche Armeen dann im Kampf gescheitert?

Motivation, Motivation, Motivation. Das zeigt allein die Tatsache, dass in jedem der fraglichen Kriege die Aufstandsbekämpfer für jeden verlorenen Mann zwanzig, fünfzig oder hundert ihrer Gegner getötet haben.

Kämpfer der Taliban: Sie sind motiviert – im Gegensatz zu vielen Soldaten westlicher ArmeenAPA/AFP/TARIQ MAHMOOD

Al-Qaida war in gewisser Hinsicht erfolgreich

George W. Bush leitete vor 20 Jahren den Krieg gegen den Terror ein, der erst enden werden, “wenn jede Terrorgruppe von globaler Reichweite gefunden, gestoppt und besiegt worden ist.” Im Rückblick: War der Krieg gegen den Terror ein Erfolg?

Henry Kissinger hat einmal gesagt: Der Rebell gewinnt, solange er nicht verliert; wer ihn bekämpft, verliert, solange er nicht gewinnt. Ziehen Sie Ihre eigenen Schlüsse daraus.

Umgekehrt: War Osama bin Laden erfolgreich? Hatte 9/11 die von ihm gewünschten langfristigen Folgen?

Wie Francis Fukuyamas’ Werke zeigen, schienen Demokratie und Globalisierung in den 1990er Jahren einer glorreichen (wenn auch ein wenig langweiligen) Zukunft entgegenzugehen. Araber und Moslems schienen zurückzubleiben. Ob arabische Musik, arabische Regierungen, arabische Armeen – sie alle gelten im Westen als schlecht. Nur arabische Pferde genossen Respekt. Erst die Taliban und dann Osama Bin Laden änderten dies und brachten den Westen zum Zittern. In dieser Hinsicht waren sie erfolgreich.

Osama bin Laden brachte den Westen zum Zittern – darin bestand sein ErfolgAPA/AFP PHOTO/MBC

Der Terror wird für eine lange Zeit eine Bedrohung bleiben

Wer sind die “Sieger” 20 Jahre nach 9/11?

Es ist ein langer Krieg und das “endgültige” Ergebnis ist noch in weiter Ferne. Aber eines scheint sicher zu sein: Teils wegen der Taliban und Al-Qaida, teils aus anderen Gründen fühlt sich der Westen heute so unsicher wie schon lange nicht mehr.

Wird der Terror von Gruppen wie Al-Qaida und IS eine Bedrohung bleiben?

Das wird er. Wenn nicht für immer, so doch für eine lange Zeit.

Und warum?

Weil der Islam, wie Winston Churchill es kurz nach seiner Rückkehr vom Sudanfeldzug 1898 formuliert hat, die außergewöhnliche Fähigkeit zu besitzen scheint, Krieger zu begeistern und sie bereit, ja geradezu begierig zu machen, sich zu opfern.

Wie sollte sich Europa gegen den Terror schützen?

Verzeihung, zur Beantwortung dieser Frage bräuchten wir eine Bibliothek, kein einfaches Interview.

Martin van Creveld wurde 1946 in Rotterdam geboren und wuchs in Israel und England auf. Er ist emeritierter Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem und einer der weltweit einflussreichsten und bekanntesten Militärhistoriker.

Van Creveld hat Verteidigungseinrichtungen zahlreicher Regierungen einschließlich jener der USA, Kanadas und Schwedens beraten und an praktisch jedem Institut, das sich mit strategischen militärischen Studien beschäftigt, Vorträge gehalten und gelehrt. Er ist häufiger Gast bei CNN, BCC und anderen internationalen Medien und hat darüber hinaus Artikel für Hunderte von Zeitschriften verfasst, einschließlich “Newsweek” und “International Herald Tribune”.

Seine vielen Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.