In Deutschland hat eine Denkaufgabe aus einem Schulbuch für einen heftigen Shitstorm gesorgt: Die Schüler wurden dazu aufgefordert, im Unterricht ein heikles Thema, zu dem verschiedene Kulturen sehr unterschiedliche Auffassungen haben, von verschiedenen Gesichtspunkten zu beleuchten. Um den Kindern die Möglichkeit zu geben, sich noch besser in die Aufgabe und in ihre Argumentation einzufühlen, wurde eine konkrete Situation vorgegeben: Eine Zwangsheirat innerhalb einer Familie aus dem türkisch-muslimischen Kulturkreis, lebend in Deutschland.

Schnell wurden heftige Vorwürfe gegen das vermeintlich von “rassistischem und populistischem Gedankengut”getränkte Schulbeispiel laut, es hagelte Entschuldigungen, das Beispiel, und das Thema Zwangsheirat allgemein sollten aus dem Buch genommen werden – doch die Autorinnen des Buchs gingen auf die Barrikaden.

Türkische Elternverbände warfen Schulbuch Verwendung von "Vokabular rechtsradikaler Populisten" vor

Das konkrete Beispiel lautete wie folgt: “Ein türkischer Familienvater in Deutschland verheiratet seine Tochter ohne deren Einverständnis mit dem Sohn seines verstorbenen Bruders, um diesem eine Aufenthaltserlaubnis für Deutschland und damit eine Existenz zu sichern.” Auf Basis dieser Ausgangssituation sollten die Schüler einen offenen Diskurs im Klassenzimmer starten – doch dieser entwickelte sich zu einem ausgewachsenen Shitstorm gegen die Schule, das Schulbuch und das vermeintlich “gefährliche” Gedankengut dahinter.

Die “Föderation Türkischer Elternvereine in NRW“ (Fötev) schrieb einen Brandbrief an die zuständige Schulministerin für Nordrhein-Westfalen, Yvonne Gebauer (FDP). Der Vorwurf: Die Schule würde mit der “extrem vorurteilsbehafteten Aufgabe” das “Vokabular rechtsradikaler Populisten” verwenden. Auch die Türkisch-Islamische Gemeinde zu Siegburg (DITIB) beschwerte sich.

Schulaufgabe zur Zwangsheirat durfte im Buch bleiben - in "zensierter" Version

Die Reaktion folgte postwendend – in Form einer Serie von Entschuldigungen: Sowohl die Schulleitung, das NRW-Schulministerium als auch der Cornelsen-Verlag, Herausgeber des Schulbuchs, entschuldigten sich für den “Verstoß gegen die Diskriminierungsfreiheit”. Der Schulbuchverlag versprach, dass die anstößige Aufgabe in der neuen Auflage so nicht mehr auftauchen würde. Das NRW-Schulministerium anders zu sehen. Es stimmte einem Vorschlag des Verlags zu, in dem das Thema Zwangsheirat überhaupt nicht mehr vorkommt. Doch die Autorinnen des Buches wehrten sich und sahen den offenen Diskurs über sehr reale, in der Gesellschaft existierende Konflikte, in Gefahr.

Eva Sewing, eine der fünf Autoren, findet dies “empörend”. Hier sei “ein fatales Signal gesendet worden, und zwar an Lehrer, Schüler, Schulbuchautoren und Verlage: Hier soll ein Dialog verhindert und ausradiert werden!” Nach langem Hin und Her errangen die Autoren einen Teilsieg: Die Aufgabe blieb auch in der Neuauflage des Schulbuchs erhalten –  aber in einer “zensierten” Variante: So darf zum Beispiel die Nationalität des Vaters nicht mehr genannt werden.

Das komplette Beispiel aus dem Schulbuch “Zugänge zur Philosophie” zum Nachlesen:

“Gibt es eigentlich moralische Normen, die für alle Menschen verbindlich sind, oder hat jede Kultur ihre eigenen und für sie gültigen Normen? Gerade nachdem die europäische Zivilisation jahrhundertelang die Wertvorstellungen anderer Kulturen, die sie für minderwertig hielt, rücksichtslos durch Gewalt oder Missionierung verdrängt hat, sind wir zu Respekt anderen Kulturen gegenüber verpflichtet. Aber folgt daraus schon, dass man auf jede Kritik anderer Vorstellungen verzichten muss, dass es keinen Maßstab für eine solche Kritik gibt?“

Das Beispiel: “Ein türkischer Familienvater in Deutschland verheiratet seine Tochter ohne deren Einverständnis mit dem Sohn seines verstorbenen Bruders, um diesem eine Aufenthaltserlaubnis für Deutschland und damit eine Existenz zu sichern.”

Zusatzinformation: In Deutschland wenden sich jährlich tausende Mädchen im Jahr an Beratungsstellen, um einer erzwungenen Ehe zu entkommen. Im Jahr 2021 gab es 77 Strafverfahren wegen Zwangsheirat.