Nach Raketenangriff starben zwei Israelinnen: Die Gewalt zwischen Israel und Palästina flaut nicht ab - Experten warnen vor einer dritten Intifada
Die Gewaltspirale zwischen Israel und Palästina dreht sich immer schneller, ein Ende ist, laut Experten, so bald nicht zu sehen. Manche sprechen von einer möglichen dritten Intifada. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu kündigte eine Verschärfung der Angriffe auf den Gaza-Streifen an.
Im Süden Israels sind am Dienstag zwei Frauen durch Raketen aus dem Gazastreifen getötet worden. Wie der israelische Rettungsdienst Magen David Adom mitteilte, starben die beiden 65 und 40 Jahre alten Frauen am Dienstag in der Küstenstadt Ashkelon. Ein Sprecher machte den Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen für die Todesfälle verantwortlich.
Die radikalislamische Hamas hatte zuvor gedroht, in Asckelon ein “Inferno” anzurichten, sollten bei israelischen Angriffen auf den Gazastreifen weitere Zivilisten getötet werden. “Am Ende werden die Palästinenser gewinnen”, erklärte Hamas-Führer Ismail Haniyeh.
Der neue Ausbruch der Gewalt zwischen Israel und den Palästinensern ist der heftigste seit Jahren. Dutzende Raketen werden aus dem Gazastreifen auf israelische Städte abgeschossen, Zivilisten fliehen panisch in Schutzräume. Israels Luftwaffe bombardiert Ziele in dem Palästinensergebiet am Mittelmeer, Menschen werden getötet. Auf dem Tempelberg in Jerusalem gibt es schwere Zusammenstöße muslimischer Gläubiger mit der israelischen Polizei.
In zahlreichen arabischen Ortschaften in Israel kommt es zu Ausschreitungen wie seit langem nicht mehr. Die Gewalt hat sich scheinbar plötzlich entladen – die Spannungen zwischen beiden Seiten brodeln allerdings schon seit einem Monat. Was sind die Auslöser dieser neuen gefährlichen Eskalation?
Polizeiliche Maßnahmen zu Beginn des Ramadan als Auslöser der Unruhen
Als Ausgangspunkt gilt der Beginn des muslimischen Fastenmonats Ramadan am 12. April. Palästinenser in Jerusalem reagierten zornig drauf, dass die israelische Polizei Sperrzäune am Damaskustor aufstellte. Dies hinderte sie daran, sich auf Treppenstufen des Vorplatzes zu setzen, der im Ramadan als beliebtester Treffpunkt gilt. Viele junge Palästinenser im arabisch geprägten Ostteil der Stadt sehen darin eine Demütigung.
Die Palästinenser werfen der Polizei auch vor, auf dem Tempelberg (Al-Haram al-Sharif) gewaltsam gegen Muslime vorzugehen. Die Anlage mit dem Felsendom und der Al-Aqsa-Moschee ist die drittheiligste Stätte im Islam. Sie ist aber auch Juden heilig, weil dort früher zwei jüdische Tempel standen. Nach israelischer Darstellung haben Palästinenser die Krawalle lange vorbereitet und in der Moschee auch Steine gehortet. Für Zunder sorgt auch die drohende Zwangsräumung palästinensischer Familien im Viertel Sheikh Jarrah.
Unter arabischen Einwohnern bestehe große Sorge, “dass Israel sie enteignen und dazu zwingen will, die Stadt zu verlassen”, sagt der palästinensische Politikwissenschaftler Jihad Harb. “Es herrscht ein Gefühl der großen Verzweiflung – nicht nur in Jerusalem, sondern in den gesamten besetzten Gebieten. Es gibt keine Perspektive, keine Friedensverhandlungen, keine politische Lösung.” Der Traum eines unabhängigen Palästinenserstaates sei immer weiter in die Ferne gerückt, während Israel seine Siedlungen ausbaue.
Videos mit Angriffen junger Araber auf gläubige Juden und abgesagte Wahl heizten Situation weiter an
Angeheizt wurden die Spannungen von Videos, die Angriffe junger Araber auf strengreligiöse Juden in Jerusalem zeigten. Dies rief wiederum ultrarechte jüdische Gruppen auf den Plan. Im Westjordanland mehrten sich wieder Anschläge und tödliche Vorfälle. Weiterer Grund für den Frust unter jungen Palästinenser: die Absage der für den 22. Mai geplanten Parlamentswahl. Es wären die ersten seit 15 Jahren gewesen.
Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas nannte als Grund, dass Israel Wahlen in Ost-Jerusalem nicht zulasse. Manche sehen darin jedoch eine Ausrede, mit der der 85-Jährige eine Niederlage seiner zersplitterter Fatah-Bewegung verhindern will. Die islamistische Hamas im Gazastreifen, die sich Erfolgschancen ausgerechnet hatte, machte allerdings Israel verantwortlich.
Experten sehen mehrere Gründe für die Eskalation
“Die Leute dachten, sie könnten das gegenwärtige Regime auswechseln und die Kontrolle durch einige Wenige beenden – aber dies wird nun nicht passieren”, sagt Harb. “All diese Faktoren gemeinsam haben zu der Explosion geführt.” Der israelische Experte Kobi Michael meint, für Abbas sei die neue Gewalt eine “goldene Gelegenheit”, um von eigenem Versagen in der Frage der Wahlen und öffentlicher Kritik abzulenken. Die Hamas nutze die Lage hingegen, um sich als “Retter Jerusalems” aufzuspielen.
Für Israel fällt die neue Gewalt in eine Zeit starker interner Instabilität. Netanyahu ist gerade zum dritten Mal binnen zwei Jahren beim Versuch gescheitert, eine Regierung zu bilden. Der 71-Jährige, gegen den ein Korruptionsprozess läuft, kämpft ums politische Überleben. Harb meint, Netanyahu versuche mit einem harten Vorgehen, seine Position vor allem im rechten Lager zu stärken. Seinen politischen Gegnern, die nun eine andere Koalition schmieden wollen, könnte die Eskalation einen Strich durch die Rechnung machen. Die Verhandlungen mit einer kleinen arabischen Partei, deren Unterstützung sie brauchen, liegen jetzt auf Eis.
Nun wird schon das Schreckgespenst eines dritten Palästinenseraufstands Intifada an die Wand gemalt. Mehrere deeskalierende Maßnahmen der israelischen Regierung zeigten bisher kaum Wirkung. Die Vorfälle in Jerusalem hätten “die Palästinenser im Westjordanland, im Gazastreifen und innerhalb Israels zusammengeschweißt”, sagt Harb.
Unterhändler versuchen eine Waffenruhe auszuhandeln
Wie kann man die Lage wieder beruhigen? Nach Medienberichten bemühen sich ägyptische Unterhändler hinter den Kulissen um eine neue Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas. In den vergangenen Jahren war das mehrmals gelungen. Man hofft auf eine Beruhigung zum großen Fest Eid al-Fitr zum Abschluss des muslimischen Fastenmonats am Mittwoch oder Donnerstag. Am Sonntag beginnt in Israel außerdem der jüdische Feiertag Shavuot.
Michael sieht jedoch auch die Gefahr, dass sich die Lage hochschaukelt. “Ich denke, es gibt eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass wir uns in einer sehr breiten Operation wiederfinden.” Diese könnte dem zweimonatigen Gaza-Krieg 2014 ähneln. Dafür, dass Israel sich auf einen längeren Einsatz im Gazastreifen vorbereitet, spricht die Tatsache, dass die Militäroperation schon einen eigenen Namen hat: “Wächter der Mauern”. (APA/red)
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