Wende in Israels Corona-Politik: Trotz Rekordzahlen kaum noch Regeln
Das gab es noch nie: Israel erlebt Rekordinzidenzen – und lockert sämtliche Corona-Maßnahmen. Israels Wissenschaftler bezweifeln seit der Ausbreitung von Omikron die Sinnhaftigkeit von Lockdowns und Einreisebeschränkungen. Die neue Variante sei zwar ansteckend, wirke sich aber großteils wie eine Grippe aus.
Das hat es seit Pandemie-Beginn noch nicht gegeben: Israel sperrt auf und lockert seine Corona-Maßnahmen trotz neuer Rekord-Inzidenzen. Das Land der rasch verhängten Lockdowns und Einreise-Stopps versucht im Gegensatz zu bisher die neue Corona-Welle nicht mehr zu brechen, sondern lässt ihr – bis zu einem gewissen Grad – freien Lauf.
Israels Infektionszahlen schießen ungebremst in die Höhe
Dabei steigen die Infektionszahlen weiterhin. Der Höhepunkt dürfte noch nicht erreicht sein. Allein am Samstag wurden 19.418 neue Infektionen (positiv Getestete) gemeldet, die meisten davon mit der neuen Omikron-Variante. Israel könnte in Kürze Österreichs Rekordinzidenz vom 24. November 2021 übertreffen.
Einreisesperre aufgehoben und Partys statt Lockdown
Normalerweise hätte Israel schon längst einschneidende Maßnahmen verhängt. Dafür war das Land in den vergangenen zwei Jahren ja bekannt: Sobald die Fallzahlen nach oben gingen, wartete Israel erst gar nicht lange ab, sondern griff sofort hart durch. Diesmal ist das anders, völlig anders.
Die kürzlich eingeführte Einreisesperre wurde wieder aufgehoben. Schulen und Restaurants sollen geöffnet bleiben, es bestehen auch keine Kontaktbeschränkungen. Partys und Urlaubsreisen sind wieder möglich. Bei der Teststrategie vollzieht Israel ebenfalls einen radikalen Kurswechsel: Niemand muss mehr positive Testergebnisse den Behörden melden. Wie stark die Infektionszahlen tatsächlich ansteigen, dürfte bald nicht mehr bekannt sein. “Die neuen Testrichtlinien geben der individuellen Verantwortung mehr Gewicht”, erklärte dazu der Generaldirektor des Gesundheitsministeriums, Nachman Ash.
Todesfälle und schwere Fälle steigen kaum
Einer der Gründe für diese Politik ist die Entwicklung der Covid-Todesfälle: Deren Anzahl steigt kaum. Im Wochenschnitt sterben in Israel momentan zwei Menschen täglich an Corona. Das Land erlebte schon weit höhere Inzidenzen.
Gleiches gilt für die schweren Fälle: Israel verzeichnet deutlich weniger schwerkrankte Patienten. Eran Segal, Bioinformatiker am Weizmann Institute, machte am 8. Jänner auf Twitter darauf aufmerksam: Bei der dritten Corona-Welle mit der Alpha-Version erlebte Israel bis zu 8000 Corona-Fälle an einem Tag, der Höchststand schwerkranker Patienten betrug 170. Bei der nachfolgenden Delta-Welle betrug der Spitzenwert bei positiv getesteten Menschen am einem Tag 10.000, bei den Schwerkranken lag er nur mehr bei 100. Bei Omikron schließlich erreichte Israel bis zum 8. Jänner 12.000 tödliche Neu-Infektionen, aber nur mehr 20 Schwerkranke.
Wissenschaftler: Omikron lässt sich nicht stoppen
Israels Wissenschaftler unterstreichen zurzeit vor allem zweierlei: Einerseits ist Omikron so ansteckend, dass Corona-Maßnahmen großteils wirkungslos bleiben. Andererseits wirkt sich das Virus aber nur mehr wie eine Grippe aus, ist also nicht mehr so gefährlich.
“Es gibt keine Kontrolle über die Omikron Welle”, sagt etwa Sharon Alroy-Preis, Leiterin des öffentlichen Gesundheitswesens im Land gegenüber dem TV-Sender Kanal 13. Ähnliche äußerte sich der Vorsitzende der israelischen Vereinigung der Ärzte für öffentliche Gesundheit, Hagai Levine, gegenüber der “Jerusalem Post”: “Da Omikron so ansteckend ist, sind unsere Bemühungen, seine Ausbreitung zu stoppen, wahrscheinlich ziemlich aussichtslos”.
Professor Eyal Shahar, einer der führenden Epidemiologen des Landes, schrieb über die neuen Erkenntnissen zu Omikron: “Wenn die Welt vor zwei Jahren von der aktuellen Hospitalisierungs- und Sterblichkeitsrate von Omikron gehört hätte, wäre das uninteressant gewesen und Omikron wäre als ein weiterer schwacher Grippestamm eingestuft worden.”
Schutz von Älteren, Einschränkungen für Ungeimpfte
Doch eine unkontrollierte Ausbreitung des Virus lässt Israel nicht zu. Nach wie vor ist man auf den Schutz der Älteren und Schwachen bedacht. Sie werden nun zum vierten Mal geimpft. Für Nicht-Geimpfte sind zahlreiche Maßnahmen noch in Kraft, weil das Risiko eines beschwerlichen Verlaufs bei ihnen nach wie vor höher ist. Israel orientiert sich an den zurzeit verfügbaren Daten, die zum Beispiel in Großbritannien ergeben haben, dass die dreifache Impfung zu bis zu 90 Prozent vor einer Omikron-Hospitalisierung schützt. In Israel steigt auch die Zahl schwer erkrankter Kinder rapide an: Ein Drittel der hospitalisierten Kinder sind Neugeborene.
Das gesteigerte Risiko für Ungeimpfte belegten jüngst auch Zahlen aus der Schweiz: Ungeimpfte Schweizer hatten in der Woche um Weihnachten eine 23 Mal höhere Covid19-Sterblichkeit als Geimpfte. Das zeigten die Inzidenzen (pro 100.000 Personen).
Mit ein Grund für den milderen Verlauf von Omikron dürfte auch der bereits erreichte Immunschutz für Geimpfte und Genesene sein. Bei Ungeimpften könnte die Hospitalisierungsrate sogar höher sein als die der Alpha-Variante Anfang 2021, lautet zurzeit eine Hypothese.
Ganz wichtiger Punkt. #Omicron erscheint uns mitunter deshalb als milder, weil Delta eine so arge Variante war. Für Ungeimpfte könnte die Hospitalisierungsrate von Omicron höher sein als die der Alpha Variante, die Anfang 2021 aufkam. Die "Milde" kommt vor allem vom Immunschutz. https://t.co/DLSEN1PvZi
— Martin Moder (@Martin_Moder) January 9, 2022
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