Eine Ministerin stößt Politik und Bürger vor den Kopf. Jubel herrscht nur bei den NGOs. Bereits beim Wiedereinzug der Grünen in den Nationalrat 2019 bedankte sich Grünen-Chef Werner Kogler als erstes bei ihnen. Nun bedanken sich die NGOs bei den Grünen, oder besser gesagt bei Verkehrsministerin Leonore Gewessler (Grüne). Greenpeace, WWF, Südwind, Global 2000 oder Naturschutzbund reagierten begeistert auf Gewesslers Stopp für den Bau des Lobau-Tunnels. Für die Umweltorganisation “Virus” ist Gewessler gar die “mutigste Verkehrsministerin der Republiksgeschichte”.

ÖVP, SPÖ, FPÖ, Wien, NÖ, ÖAMTC, Arbö, Wirtschaft und Gewerkschaft können sich dem Jubel nicht anschließen. Sie erhöhen nun den Druck nach dem Alleingang der Verkehrsministerin.

Michael Ludwig: "Angriff auf die Lebensqualität der Wiener"

Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) schloss einmal mehr rechtliche Schritte nicht aus. Für ihn ist mit der heutigen Absage “das letzte Wort noch nicht gesprochen”. Er sieht in den von Gewessler vorgestellten Plänen “eine gewisse Pflanzerei”, denn demnach würde die Stadtstraße “im Nichts enden”. Ludwig bemängelte fehlende Alternativvorschläge Gewesslers.

Ludwig unterstrich darüber hinaus, dass das Projekt des Lobautunnels mehrfach von Experten geprüft und nach Umweltkriterien angepasst und erst so beschlossen worden sei. Ausdrücklich eine Klage ankündigen wollte Ludwig nicht. Allerdings werde er “alle Möglichkeiten einsetzen, entsprechende Schritte zu setzen” und erwarte noch eine lange Diskussion. Er ortete jedenfalls einen Angriff auf die Lebensqualität der Wiener.

Mikl-Leitner: "Können Osten nicht einfach im Stich lassen"

Der geplante Lobautunnel ist der noch immer fehlende Teil der Wiener Außenring-Schnellstraße (S1). Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) ortet “grüne Parteitaktik”. Sie sei “eng abgestimmt” mit Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ). “Wir werden prüfen, welche rechtlichen Möglichkeiten es gibt”, sagte Mikl-Leitner.

Auch sie vermisst Alternativen der Ministerin für die Menschen im Osten. “Dazu war heute gar nichts zu hören. Und den Osten Österreichs einfach im Stich zu lassen, wird es nicht spielen.”

Finanzminister Blümel: "Wichtiges Infrastrukturprojekt"

Auch auf Bundesebene dürften noch Debatten folgen. ÖVP-Finanzminister Gernot Blümel unterstrich: “Es handelt sich um ein wichtiges und wesentliches Infrastrukturprojekt, das sowohl Anrainer entlastet als auch den Standort stärkt.”

Noch mehr Druck von Seiten der ÖVP forderte FPÖ-Verkehrssprecher Anton Mahdalik: “Allein im 22. Bezirk schmoren 200.000 Menschen seit Jahren in einer Stauhölle, die durch massive Bautätigkeit und die skandalöse Streichung einer unverzichtbaren Entlastungsstraße weiter angeheizt wird.” Auch der ÖAMTC wies auf die Stausituation hin: “Der heute angekündigte Stopp für den S1-Lückenschluss bedeutet, dass die dringende Entlastung der Südost Tangente (A23) ausbleibt.” Der ARBÖ forderte in einer Aussendung ebenfalls die sofortige Rücknahme der Entscheidung.

Scharfe Kritik von Wiener Wirtschaftskammer

Ärger herrscht auch bei Wirtschaftsbund und Sozialdemokratischem Wirtschaftsverband (SWV). Für den Wiener Wirtschaftskammerpräsidenten Walter Ruck ist der Tunnel für den Wirtschaftsstandort Wien und die Ostregion von “essenzieller Bedeutung”, wie er klarstellte. “Kein Infrastrukturprojekt in Österreich wurde bisher so intensiv geprüft, wie dieser Tunnel.” Und: “Für die Entwicklung jener Gebiete Wiens, die auf die Versorgung mit der S1 abgestimmt und auf sie angewiesen sind, ist ein intakter Regionenring inklusive Tunnel unter der Lobau die Lebensader. Es geht hier nicht nur um viele neue Wohnungen für eine wachsende Stadt. Ohne diese Anbindung hängt auch Wiens wichtigstes Gebiet für Betriebsansiedlungen in der Luft.”

Ruck spart nicht mit Kritik: “Dass nun der Rechtsstaat durch eine einsame – um nicht zu sagen willkürliche – Entscheidung ausgehebelt wird, ist mehr als bedenklich. Wir leben in Wien im 21. Jahrhundert und nicht im antiken Rom, wo über Existenzen per Daumenstellung entschieden wurde.”

ÖAAB: "Gewessler gefährdet tausende Arbeitsplätze"

Alles andere als zufrieden zeigt man sich beim Wiener ÖAAB. Landesgeschäftsführer Hannes Taborsky: “Ganz abgesehen von der verkehrspolitischen Problematik dieser Absage, geht es hier auch um Tausende Arbeitsplätze. Und auch den vielen Betrieben in der wachsenden Ostregion und den dort beschäftigten Arbeitnehmern wird durch diese völlig unverständliche Entscheidung empfindlicher Schaden zugefügt.” Gewessler gefährde Tausende Arbeitsplätze.

Ungewöhnlich scharf kritisiert der Vorsitzende der Fraktion der christlichen Gewerkschafter, Thomas Rasch, die Entscheidung der Grünen Klimaschutzministerin: 2Die völlig unverständliche Absage an das dringend notwendige Straßenprojekt strotzt vor politischer Inkompetenz und ignoriert die wichtigen Bedürfnisse der Wiener nach weniger Lärm und weniger Abgase! Und das alles, um den eigenen und völlig verfehlten PR-Gags in Sachen Klimaschutz Rechnung zu tragen. Klimaschutz und Nachhaltigkeit sehen jedenfalls anders aus!”