Mahnende Worte richtet der US-Wirtschaftswissenschaftler Joseph Stiglitz (79) an die Politiker seines Landes: „Wenn die USA einen neuen kalten Krieg beginnen wollen, sollten sie besser verstehen, was nötig ist, um ihn zu gewinnen.“ Das sei gegenwärtig aber nicht der Fall, kritisiert der Nobelpreisträger.

Neuerlich seien die USA in einen Kampf um die globale Vorherrschaft eingetreten. Dabei hätten Republikaner wie Demokraten keineswegs nur Russland im Auge , sondern schon längst China.

Stiglitz: „Zeichen gegenüber China stehen auf Sturm“

Gegenüber China „stehen die Zeichen auf Sturm“, unterstreicht Stiglitz auf „Project Syndicate“ – einem Online-Anbieter von Expertenkommentaren und Analysen. „In Washington besteht ein parteiübergreifender Konsens darüber, dass China eine strategische Bedrohung darstellen könnte und dass das Mindeste, was die USA tun sollten, um das Risiko zu mindern, darin besteht, das Wachstum der chinesischen Wirtschaft nicht weiter zu unterstützen.“

Nie um scharfe Kritik verlegen: Nobelpreisträger Joseph Stiglitz.APA/AFP/JACQUES DEMARTHON

Sogar Präventivmaßnahmen seien gerechtfertigt, „selbst wenn dies bedeutet, dass die Regeln der Welthandelsorganisation verletzt werden, die die USA selbst so sehr mitgestaltet und gefördert haben. Diese Front im neuen Kalten Krieg wurde lange vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine eröffnet.“

Hochrangige US-Beamte warnen, der Krieg in der Ukraine dürfe nicht von „der wahren langfristigen Bedrohung ablenken: China.“

Die USA brauchen einen Plan und Verbündete – beides fehlt

Das Wirtschaftswachstum Chinas sieht Joseph Stiglitz weiterhin im Steigen: „Natürlich will Amerika nicht entthront werden. Aber es ist einfach unvermeidlich, dass China die USA wirtschaftlich überflügeln wird, unabhängig davon, welchen offiziellen Indikator man verwendet. Das Land hat nicht nur eine viermal so große Bevölkerung wie die USA, seine Wirtschaft wächst auch seit vielen Jahren dreimal so schnell (und hat die USA bereits 2015 in Bezug auf die Kaufkraftparität überholt).“

Was den USA nun fehle, sei ein Kriegsplan: „Ein Land, das sich im ‚Krieg‘ befindet, braucht eine Strategie, und die USA können einen neuen Großmachtkampf nicht allein gewinnen; sie brauchen Freunde.“ Doch die fehlten zunehmend. Die gloriosen Zeiten nach Ende des Kalten Krieges seien vorbei. „Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs waren die USA zwei Jahrzehnte lang eindeutig die Nummer eins. Doch dann kamen katastrophal fehlgeleitete Kriege im Nahen Osten, der Finanzcrash von 2008, steigende Ungleichheit, die Opioid-Epidemie (starker Anstieg von Drogenabhängigen, Anmerkung) und andere Krisen, die die Überlegenheit des amerikanischen Wirtschaftsmodells in Frage zu stellen schienen.“

Wachsende Entfremdung, selbst gegenüber Europa

Auch die wachsenden sozialen und politischen Spannungen schwächten die USA und ihre Überzeugungskraft.

„Die natürlichen Verbündeten sind Europa und die anderen entwickelten Demokratien der Welt.“ Nur mittlerweile habe in den vergangenen Jahren auch hier eine Entfremdung  eingesetzt. Die „Verlässlichkeit der USA als Partner wurde in Frage gestellt. Darüber hinaus müssen die USA auch die Herzen und Köpfe von Milliarden von Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenländern der Welt gewinnen – nicht nur, um Zahlen auf ihrer Seite zu haben, sondern auch, um sich den Zugang zu wichtigen Ressourcen zu sichern.“

Europa und Amerika predigen Werte, die sie nicht befolgen

Um kalte Kriege zu gewinnen, brauche es auch die „sanfte Macht der Attraiktivität und Überzeugung. Um zu gewinnen, müssen wir den Rest der Welt davon überzeugen, nicht nur unsere Produkte zu kaufen, sondern auch das soziale, politische und wirtschaftliche System, das wir verkaufen.“

Zurzeit sieht Stiglitz eine Glaubwürdigkeitsdefizit des Westens generell: „Europa und Amerika sind hervorragend darin, andere darüber zu belehren, was moralisch richtig und wirtschaftlich sinnvoll ist. Aber die Botschaft, die in der Regel ankommt – wie das Fortbestehen der amerikanischen und europäischen Agrarsubventionen zeigt – lautet: „Tu, was ich sage, nicht was ich tue.“

Moralische Heuchelei, wenn man Saudi-Arabien umwirbt

Fehlende Glaubwürdigkeit sieht Stiglitz auch mit Blick auf die Verbündeten des Westens: „Die Darstellung der Konfrontation durch die US-Führung als eine zwischen Demokratie und Autoritarismus lässt nichts Gutes erahnen, insbesondere zu einer Zeit, in der dieselbe Führung einen systematischen Menschenrechtsverletzer wie Saudi-Arabien aktiv umwirbt. Eine solche Heuchelei lässt vermuten, dass es zumindest teilweise um die globale Hegemonie und nicht um Werte geht.“

Wer dominiert künftig die Welt?