Sowohl in Charkiv als auch in Cherson in der Südukraine verwendeten Kiews Streitkräfte in ihrer Offensive ausschließlich westliches Militärmaterial. Die Panzer etwa kamen aus Polen und Tschechien. Die Ukraine ist also schon längst auf militärische Hilfe aus dem Westen angewiesen, gleichzeitig zeigen sich aber die ukrainischen Soldaten hochmotiviert.

Entscheidend waren für die Erfolge in der Ostukraine vor allem hochmobile Einheiten, sagt der Militärexperte Markus Reisner. Sie haben am 6. September an einer günstigen Stelle, die von den Russen eher stiefmütterlich behandelt wurde, angegriffen und konnten binnen sehr kurzer Zeit 50 Kilometer zurücklegen. Russland hatte dort nur untergeordnete Einheiten im Einsatz.

Unter den russischen Soldaten brach Panik aus

In den eroberten Städten wurden ukrainische Flaggen gehisst. Die Bilder davon machten Eindruck, auch auf die russischen Einheiten, wo sie Panik auslösten. Es entstand das Gefühl, von den heranrückenden Truppen zunehmend umfasst zu sein. Also ergriffen die russischen Streitkräfte die Flucht. “Wenn sich eine große Formation auf der Flucht befindet, ist sie sehr schwer wieder aufzuhalten”, unterstreicht der Oberst.

In Cherson konnten die Russen den ukrainischen Angriff bisher abwehren

Die russischen Truppen zogen sich an das östliche Ufer am Oskol-Fluss zurück. Immerhin schafften sie es dort eine Verteidigungsstellung einzunehmen. Dabei wurden sogar mit Hubschraubern Panzer eingeflogen – ein Hinweis auf den Ernst der Lage.

Während es den Russen im südlichen Cherson gelang, die ukrainischen Angriffsspitzen abzunützen und signifikanten Fortschritt abzuwehren, musste Russland in Charkiv schmerzhafte Verluste einstecken, wo die Ukraine mit zwei mechanisierten Brigarden, einer Luftsturmbrigarde, territorialen Einheiten und zusätzlicher Unterstützung bis zum Fluss vordrang, und unter anderem die sehr wichtige Stadt Isjum einnahm. Doch was bedeutet das jetzt?

Die Geschichte lehrt: Konträre Szenarien sind jetzt möglich

Markus Reisner verweist zum einen auf die Operation Cobra im Juli 1944, als den alliierten Streitkräften aus der Normandie der Durchbruch in das französische Tiefland gelang. Dieser Erfolg leitete den Rückzug der Verbände der Wehrmacht und der Waffen-SS ein. Anders verlief wiederum die Ardennenoffensive 1944/45, bei der die Wehrmacht versuchte, den westalliierten Armeen eine große Niederlage zuzufügen und den Hafen von Antwerpen zurückzuerobern. Zuerst erlebte sie auch hier große Erfolge, musste sich aber dann der feindlichen Übermacht beugen. Die Offensive scheiterte.

Ukrainische Soldaten feiern die Rückeroberung

Beide Szenarien sind im Falle der Ukraine möglich. Bisher hat der ukrainische Gegenschlag bewirkt: Weniger als 20 Prozent der Ukraine sind nun im Besitz Russlands. Der Krieg ist in eine neue Etappe eingetreten, in dem die Ukraine erstmals seit Juli wieder die Initiative übernommen hat. In der ersten Phase gelang der ukrainischen Armee zunächst die Abwehr der russischen Streitkräfte im Raum Kiew. Im Juli konnte dann Russland die Kesselschlacht von Lyssytschansk für sich entscheiden und in der Folge die gesamte Region Luhansk erobern. Das hatte nachhaltige Wirkungen auf den Krieg, die Initiative lag danach klar bei Russland. Nun ist sie wieder zur Ukraine gewandert.

“Entscheidend ist, ob die Ukraine diesen Erfolg ausbauen kann”, sagt Reisner. Ob die Schlacht eine Wende einleitet, werde sich erst in den kommenden Monaten zeigen.