Eigentlich gilt George Orwell (1903 bis 1950) im Vereinigten Königreich und darüber hinaus als einer der bedeutendsten Schriftsteller der britischen Literatur. Weltberühmt wurde er vor allem durch seine eindringlichen Schilderungen repressiver Mechanismen in totalitären Staaten. In seinem letzten Werk, dem dystopischen Zukunftsroman “1984”, gelang ihm das auf zutiefst bedrückende Weise. Zur geflügelten Redewendung wurde der Propagandaspruch daraus “Der große Bruder sieht dich” (“Big Brother is watching you”). Gemeint ist die permanente Beobachtung, der die Bürger des fiktiven Staates “Ozeanien” ausgesetzt sind, und die von ihnen verinnerlicht wird.

Mittlerweile steht “1984” selbst unter Beobachtung.

George Orwell selbst beschrieb eine Art Cancel Culture in seinem letzten Buch, die alles ausradierte, was nicht in die herrschende Ideologie passte.Getty

Vor der Lektüre dieses Standardwerks der Weltliteratur wird an der britischen Universität Northampton gewarnt. Orwells Klassiker könnte problematische Folgen bei den Studenten nach sich ziehen, fürchtet die Universitätsleitung. Man fragt sich: Wird ein Werk, das bereits in der Mitte des vorigen Jahrhunderts vor der Cancel Culture unter Diktaturen gewarnt hat, die alles “Anstößige” von ihren Bürgern fernhalten, nun selbst gecancelt werden müssen?

Studenten werden vor "anstößigen und verstörenden" Inhalten gewarnt

Wie britische Medien berichten, teilte die Universität Northampton den Studenten des Kurses “Identity Under Construction” vorweg mit: Hier würden “schwierige Themen im Zusammenhang mit Gewalt, Geschlecht, Sexualität, Klasse, Rasse, Missbrauch, sexuellem Missbrauch, politischen Ideen und anstößiger Sprache” behandelt. Dazu gehört “1984” von George Orwell.

Orwells Buch gilt bis heute als Warnung vor totalitären Mechanismen der Ausgrenzung und UnterdrückungGetty

Auch weitere Bücher könnten gemäß den dort lehrenden Akademikern “anstößig und verstörend” sein, darunter das Samuel Beckett-Stück “Endgame”. Ein Sprecher der Universität sagte der britischen Dailymail: “Es ist zwar keine Universitätspolitik, aber wir können Studenten vor Inhalten warnen, die mit Gewalt, sexueller Gewalt, häuslichem Missbrauch und Selbstmord zu tun haben.” Man sei sich “bewusst, dass einige Texte für manche Studenten eine Herausforderung darstellen könnten”. Das habe man “bei der Entwicklung unserer Kurse berücksichtigt”.

Tory-Abgeordneter: Wir sollen uns einer homogenisierten Gesellschaft anpassen

George-Orwell-Biograf David Taylor zeigt sich verwundert: “Ich denke, dass 13-Jährige einige Szenen in dem Roman verstörend finden könnten, aber ich glaube nicht, dass irgendjemand im Grundschulalter noch wirklich von einem Buch schockiert ist.” Kopfschütteln beim Tory-Abgeordneten Andrew Bridgen: “Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Studenten jetzt vor der Lektüre von 1984 gewarnt werden müssen. Unsere Universitäten werden schnell zu dystopischen Big-Brother-Zonen, in denen Neusprech praktiziert wird, um die Bandbreite intellektueller Gedanken einzuschränken und Redner, die sich nicht daran halten, auszuschließen.”

Bridgen warnt: “Zu viele von uns, und nirgendwo wird dies deutlicher als an unseren Universitäten, haben ihre Rechte freiwillig aufgegeben, um sich stattdessen einer homogenisierten Gesellschaft anzupassen, die von einer liberalen Elite regiert wird, die uns vor Ideen ‘schützt’, die ihrer Meinung nach zu extrem für unsere Empfindlichkeiten sind.”