Sergej Sumlenny ist der frühere Direktor des Heinrich-Böll-Institutes und ein renommierter Osteuropa-Experte. Als solcher sind seine Einschätzungen und Beobachtungen zum Krieg in der Ukraine mit besonderem Interesse zu verfolgen – und nun sorgt er mit zehn Thesen auf Twitter für Aufsehen. Denn Sumlenny führt in seinen Ausführungen einige ebenso interessante wie ungemütliche Argumente ins Treffen: Der russische Staat habe auf “Kriegsmodus“” geschalten, und kein Interesse daran, ebendiesen zu beenden, ist der Osteuropa-Experte überzeugt.

Nach drei Kriegen ist Gesellschaft abgestumpft

Es sei ein permanenter Krieg, in dem die Russen leben. In der russischen Gesellschaft sei durch die Kriege in Tschetschenien, Georgien und Syrien eine Art Gewöhnung eingetreten und die “Barrieren gegenüber Gewalt” gefallen.

Tschetschenische Einheiten vor dem Einsatz in der Ukraine beim muslimischen Gebet: 100 Mal mehr ehtnische Minderheiten sterben an der Front - als slawische Russen!

Das Konzept der russischen Angriffskriege sei “extrem kolonial” – für die russische Gesellschaft sei es “normal”, ethnische Minderheiten “zum Sterben an die Front zu schicken”, so Sumlenny. Laut dem Experten ist die Zahl der toten Kaukasier, Tschetschenen und anderer Minderheiten im Ukraine-Krieg 100 Mal höher als jene von slawischen Russen.

Außerdem sei der Tod von Soldaten (die ohnehin Minderheiten zugeordnet werden) vielen Russen schlichtweg egal. Ein ähnliches Prinzip habe Russland auch schon im 2. Weltkrieg angewandt: Dort habe man zuerst die Ukraine okkupiert – und die Ukrainer dann an die Front gegen Nazi-Deutschland geschickt.

Das Massaker von Butscha nach dem gescheiterten Versuch Kiew zu erobern: Es könnte einen weiteren Anlauf der Russen geben!Reuters

Außerdem sieht Sumlenny, dass auch verpasste Ziele Russland nicht vor weiteren Kriegen abgehalten haben. „Tiflis wurde 2008 nicht eingenommen, Neurussland wurde 2014-15 nicht gegründet, Kiew wurde 2022 nicht eingenommen“ – und trotzdem sei immer weiter Krieg geführt worden.

Neue Versuche sollen nicht ausgeschlossen sein

Westliche Beobachter schätzen die Lage wohl falsch ein: Putin sei laut dem Experten ein „lebenslanger Diktator“, die Nicht-Einnahme von Kiew sei eine „Verzögerung“ und der russischen Gesellschaft konnten trotzdem Erfolge verkauft werden – etwa durch die Annexion der Krim und die Versorgung Russlands mit wichtigen Ressourcen. Ähnliches wird auch für die Region Cherson erwartet.

Außerdem führt Sumlenny ins Treffen, dass es nicht ausgeschlossen sei, dass Russland auch neue Versuche starten könnte, Kiew doch noch einzunehmen. Das sind keine guten Nachrichten für viele Menschen, die auf einen Frieden im überfallenen Land hoffen.

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