Viren sind nicht beliebt. Das Corona-Virus hat ihr negatives Image noch verstärkt. Doch im Ökosystem übernehmen sie eigentlich eine wichtige regulatorische Funktion, sagt der österreichische Mikrobiologe Heribert Insam. Sobald ein Organismus nämlich besonders dominant ist und sich stark vermehrt, steigt auch die Zahl der Viren, die ihn bekämpfen – und das sorgt für einen Ausgleich: “Für ein Ökosystem ist es wichtig, dass nicht irgendwelche Spezies überhandnehmen”, unterstreicht Insam in einem interview mit N-TV.

So konnte etwa das Hantavirus die sprunghafte Vermehrung der Langschwanz-Zwergreisratte in Argentinien eindämmen. “Ohne das Hantavirus würde sich die Ratte aber weiter vermehren, aus den Bambuswäldern ausbrechen und noch viel mehr Schäden anrichten.”

Viren haben eine wichtige Funktion zwecks Verbesserung der genetischen Vielfalt

In der Biologie nennt man das ökologische Konzept “Kill The Winner” (deutsch: Tod den Siegern). Wenn ein Organismus besonders erfolgreich ist, dann steigt demnach auch die Zahl seiner Gegner. Das müssen nicht nur Viren sein, dazu zählen auch Raubtiere. “Im Fall von Viren ist es so, dass sie sich sehr oft gemeinsam mit anderen Organismen evolutiv entwickelt haben”, unterstreicht Heribert Insam. “Die Viren haben etwa eine bedeutende Rolle in der Verbesserung der genetischen Vielfalt vieler Organismen.” Sei seien aber auch wichtige Regulatoren. “Denn sie sind besonders dann erfolgreich, wenn die Populationsdichte ihrer Wirtsorganismen besonders hoch ist.”

Der entscheidende Faktor bei “Kill The Winner” sei die Populationsdichte – und das machte sich auch bei der Ausbreitung des Coronavirus zu Beginn der Pandemie bemerkbar. “Das Virus hat sich zuerst in den großen Städten ausgebreitet.” Daraus folge aber nicht, dass die Natur den Menschen mit der Pandemie loswerden will. “Die Natur verfolgt kein besonders Ziel. Aber die Chancen für Bakterien und Viren und andere Gegenspieler des Menschen, sich zu verbreiten, steigen natürlich mit der menschlichen Populationsdichte.”

Mit sozialer Distanzierung konnte sich der Mensch bereits gegen das Prinzip wehren

Der Mensch schaffe es freilich, sich dem “Kill The Winner”-Prinzip zu entziehen – diesmal etwa zunächst durch soziale Distanzierung. Das habe auch die Dynamik bei der Ausbreitung des Virus verändert. “Social Distancing ist ja praktisch nichts anderes, als eine Verringerung der Populationsdichte.” Mittlerweile entwickelte der Mensch auch Impfstoffe. Mit anderen Worten: Der Mensch hat die Möglichkeit, sich gegen das “Kill The Winner”-Prinzip zu wehren, und das hat Folgen. “Durch das ‘Kill The Winner’-Prinzip hatte sich in den Ökosystemen der Erde über viele Millionen Jahre auch ein Gleichgewicht eingestellt. Der einzige Organismus, der sich jetzt ungehemmt vermehrt, ist der Mensch. Und das bringt dieses Gleichgewicht ins Wanken.”

Sollten Viren plötzlich verschwinden, würden sich auf jeden Fall die stärksten Organismen ungehemmt durchsetzen. “Aber sie erreichen dann irgendwann eine so hohe Dichte, dass es zu einem Mangel an Nährstoffen kommt. Und dann würde schließlich auch deren Population zusammenbrechen.”