Wer erinnert sich nicht zurück. Nach dem Einmarsch Russlands in Teilen der Ukraine wurden vor allem auf Betreiben der USA vom Westen rasch „harte Sanktionen“ gegen Russland verhängt. So schlug etwa der französische Wirtschaftsminister Bruno Le Maire schon wenige Tage nach dem Ausbruch des Ukrainekriegs (24. Februar) scharfe Töne an: Der Westen werde „einen totalen wirtschaftlichen und finanziellen Krieg gegen Russland“ führen.

Im Interesse der eigenen Bevölkerung die Sanktionen aufheben

Mehr als ein halbes Jahr später jedoch gebe es „nur mäßige Anzeichen einer wirtschaftlichen Schwächung“ des russischen Bären, schreibt der angesehene Politikforscher Heribert Dieter im Magazin Internationale Politik. „Im Gegenteil: Die Einnahmen aus Ölexporten beliefen sich dieses Jahr bislang auf etwa 20 Milliarden Dollar pro Monat – gegenüber 2021 (14,5 Milliarden Dollar pro Monat) ein deutlicher Anstieg um rund ein Drittel. Die russische Regierung kann nicht nur den Angriffskrieg fortsetzen, sondern ist zudem liquide genug, um ohne Gasexporte nach Westeuropa auszukommen“, erklärt Dieter, der auch an den Universitäten Potsdam und Zeppelin in Friedrichshafen am Bodensee lehrt.

Findet die Russland-Sanktionen des Westens überhaupt nicht gut, Politikforscher Heribert DieterFoto: Philip Bartz / Leopoldina

Der Experte führt auch ins Treffen, was Politiker wie der ungarische Regierungschef Viktor Orbán seit Monaten betonen: „Die Folgen der russischen Vergeltungssanktionen sind in vielen Ländern der Europäischen Union, aber auch in Entwicklungs- und Schwellenländern schmerzlich zu spüren. Schon im Interesse der eigenen Bevölkerung wäre es geboten, die Wirtschaftssanktionen gegen Russland aufzuheben.

Die Russen können leiden wie sonst niemand

Laut Dieter hat die Sanktionsallianz unter der Führung der USA „drei Dimensionen ihrer Maßnahmen entweder falsch eingeschätzt oder nicht bedacht“. Erstens: Die Fähigkeit der russischen Gesellschaft, Sanktionen zu bewältigen, sei völlig unterschätzt worden. „Zugespitzt formuliert: Die Menschen in Russland kennen Sanktionen und wissen damit zu leben“. Zweitens: Die Sanktionen hätten nachhaltige Folgen für das internationale Finanzsystem. Denn: „Die Maßnahmen können zur Herausbildung konkurrierender Systeme führen.“ Drittens: Die Sanktionen hätten Auswirkungen auf den internationalen Handel und dürften die „ohnehin zu beobachtende Tendenz zum Rückbau der internationalen Wirtschaftsbeziehungen verschärfen“.

Die Sanktionen hätten den Krieg eigentlich stoppen sollen

Dieter erinnert daran, dass der Westen sich schon an der Sowjetunion mit Sanktionen immer wieder die Zähne ausgebissen habe: „Bis zu ihrem Zusammenbruch wurde die UdSSR immer wieder mit Wirtschaftssanktionen konfrontiert, etwa dem eingeschränkten Zugang zu neuer Technologie.“ Laut Dieter dürfte vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen die russische Gesellschaft ein Maß an Improvisationskunst und Leidensfähigkeit entwickelt haben, das jenes westlicher Gesellschaften deutlich übersteigt. Der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu etwa habe die britische Regierung nach Angaben der Washington Post im ­Februar 2022 wissen lassen: „Russen können leiden wie sonst niemand.“

Verteidigungsminister Schoigu: Russland können leiden

Der Westen will die Welt nach seinen Wünschen ordnen

Der deutsche Politik-Experte weist auch darauf hin, dass die Eigen- und Fremdwahrnehmung der USA und Westeuropas massiv auseinanderklaffe. Während der Westen sich als Friedensstifter betrachtet, wird er von der nichtwestlichen Außenwelt überhaupt nicht so wahrgenommen. Dort würden sie „vor allem als Aggressoren und weniger als friedensstiftende Akteure wahrgenommen“, schreibt Dieter. Das erkläre aber auch, warum es im Jahr 2022 nicht gelinge, in Entwicklungs- und Schwellenländern eine große Zahl von Unterstützern der Sanktionen gegen Russland zu finden. „Indien, aber auch fast alle Länder Afrikas und Südamerikas setzen ihre Wirtschaftsbeziehungen zu Russland fort oder bauen diese sogar noch aus.“

Schlechtes Omen für wichtigeren Konflikt mit China

In diesem Zusammenhang spottete im Juli auch der britische Guar­dian: „Die ­Sanktionen basieren auf der neoimperialen Annahme, dass westliche Staaten berechtigt sind, die Welt nach ihren Wünschen zu ordnen“. Für den strategisch sehr viel wichtigeren geopolitischen Konflikt mit China ist die Verärgerung asiatischer, südamerikanischer und afrikanischer Länder über die Art und Weise der Sanktionsverhängung jedoch ein schlechtes Omen, so Dieter. Sein Fazit: „Der Nutzen der Sanktionen ist begrenzt, aber die von ihnen verursachten Kollateralschäden, einschließlich der Folgen der russischen Gegensanktionen für die europäischen Volkswirtschaften, sind enorm.“

Die Entscheidungsträger der USA und der EU scheinen Stimmen wie jene von Heribert Dieter nicht zu beirren: Laut Medienberichten plant der Westen aktuell, sein neuntes Sanktionspaket gegen Russland zu schnüren.

Machen die westlichen Sanktionen gegen Russland Ihrer Meinung nach Sinn?