Big Brother in Russland: Seit Invasion explodieren Kosten für Überwachung
Mittlerweile befinden sich mehr als eine halbe Million Überwachungskameras in Russland, importiert aus China. Alle verfügen über Gesichtserkennung. Die Kosten zur Überwachung der Gesellschaft sind seit der Invasion explodiert. Der Kreml geht so offenbar gegen Kriegsgegner vor, und will Demonstrationen im Keim ersticken.
In Russland ist Zahl an Kameras mit Gesichtserkennung kürzlich auf 508.000 im ganzen Land gestiegen. Das hat eine Untersuchung des unabhängigen russischen Mediums „The Moscow Times“ ergeben. Am stärksten betroffen ist die Hauptstadt Moskau, wo mehr als 200.000 Kameras 74 Prozent der öffentlichen Plätze überwachen.
Das Ziel von einer halben Million Überwachungskameras ist aber offensichtlich nicht primär die Kriminalitätsbekämpfung (siehe unten), sondern die Verfolgung von Oppositionellen und Kritikern des Krieges in der Ukraine. Jegliche Anti-Kriegs-Demonstrationen sollen im Keim erstickt werden. Der russische Staat ist mittlerweile bereit, Unsummen für eine umfassende Überwachung der Gesellschaft auszugeben.
Rekordsummen für Datenübertragung und -Speicherung
Die Maßnahmen wurden drastisch ausgeweitet. Journalisten zufolge sind die Ausgaben für das nationale Videoüberwachungssystem seit Beginn der vierten Amtszeit von Präsident Wladimir Putin drastisch gestiegen: Zwischen 2019 und 2022 wurden 18,5 Milliarden Rubel (180 Millionen Euro) in die 2015 gestarteten Programme „Sichere Stadt“ und „Sichere Region“ gepumpt, 2,5 Mal mehr als in den vier Jahren zuvor.
Die unzähligen Videos werden in Datenspeicherzentren übertragen. Seit der Invasion sind die Ausgaben des Staates auch hier nochmals drastisch gestiegen – auf 27 Milliarden Rubel (264 Millionen Euro), berichtet „Le Figaro“: „Diese Zahl übertrifft den bisherigen Rekord aus dem Jahr 2018 von 19 Milliarden Rubel (185 Millionen Euro), die für die letzten Präsidentschaftswahlen ausgegeben wurden.“
Paradox? Identifikationrate von Kriminellen ausgerechnet in Moskau besonders niedrig
Die Kriminalitätsrate in Russland wurde dadurch allerdings nicht gesenkt, wie die „Moscow Times“ feststellt. Es ist scheinbar paradox: Ausgerechnet in der Hauptstadt liegt die Identifikationsrate von Kriminellen weit unter der des ganzen Landes. Dabei ist die Stadt am dichtesten mit diesen Kameras ausgestattet.
Die Ziele des Kreml liegen woanders, sagt Aljona Popowa gegenüber „Le Figaro“: „Alle Haupthäftlinge sind Anti-Kriegs-Aktivisten, sowie Politiker oder Menschen, die aktiv gegen den Krieg sind, aber keineswegs echte Kriminelle sind“, sagt die prominente feministische Aktivistin in Russland. Popowa bekam das Überwachungssystem selbst zu spüren. Im Jahr 2018 wurde sie in ihrer Wohnung festgenommen, weil sie – völlig legal – gegen einen Abgeordneten demonstrieren wollte, der wegen sexueller Übergriffe vor dem russischen Parlament angeklagt wurde.
Wer sich der Wehrpflicht entzieht, wird ebenfalls inhaftiert
Neben Oppositionellen sollen auch Wehrpflichtige, die bei den Militärregistrierungsstellen fehlen, mithilfe dieser Kameras in Moskau aufgespürt werden, wie der Militärkommandant Maxim Loktev im vergangenen Jahr offen zugab.
Seit Februar 2022 wurden laut der abhängigen Menschenrechts- und Mediengruppe OVD-Info 600 Oppositionelle oder Wehrpflichtige vorübergehend inhaftiert, obwohl diese Zahl in Wirklichkeit viel höher sein könnte, da nicht alle Inhaftierten wissen, dass sie von den Videoüberwachungskameras identifiziert wurden.
Segregation der Bürger nach Loyalität steht möglicherweise bevor
„Der nächste Schritt wird die Segregation von Bürgern nach ihrer Loyalität und ihrem öffentlichen Verhalten sein. Und das ist nicht mehr weit entfernt”, sagt Sarkis Darbinyan, einer der führenden Anwälte von Roskomsvoboda, gegenüber der „Moscow Times“. Der Direktor der Organisation zur Verteidigung des Internets (OZI), Michail Klimarew, hat hier jedoch Zweifel: „Russland verfügt noch nicht über die Ressourcen wie China, von wo all diese Kameras importiert werden, um ein solches Niveau der Überwachung und Kontrolle der Bevölkerung zu erreichen.“
Zurzeit bezwecken die astronomischen Ausgaben für Videoüberwachung offenbar vor allem eins: Die Bürger sollen davon abgehalten werden, demonstrieren zu gehen oder auch nur zu Demonstrationen aufzurufen. Im russischen Internet haben daher Kontrolle und Zensur von Inhalten neue Höhen erreicht, berichtet „Le Figaro“. Das System ist nicht erst seit dem Krieg entstanden, erläutert Mikhail Klimarev. Doch es werde noch schlimmer als in China. „Das ist Staatsterrorismus. Das heißt, es gibt wirklich Leute, die für Wörter im Internet inhaftiert wurden, was zu Selbstzensur führt“.
Kameras sogar in Klassenräumen
Professor Igor Lipsits, der an der renommierten Higher School of Economics (HSE) in Moskau lehrte, berichtete in einem BBC-Interview mittlerweile von „Kameras in den Klassenzimmern, die aufzeichnen, damit es keine “Probleme“ gibt”. Auf diese Weise häufen sich die Videokompromisse”.
Die US-NGO „Human Rights Watch“ kritisierte Russland bereits 2020 scharf, weil es „eines der größten Überwachungskamerasysteme der Welt“ in Moskau installiert habe. Damals wurde das mit dem Kampf gegen Covid-19 begründet.
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