Lettlands Botschafterin Guna Japina im eXXpress-Interview: „Wir unterstützen die Ukraine bis sie siegt“
Seit der Invasion leistet Lettland besonders viel Hilfe für Kiew. Guna Lapina, Botschafterin in Wien, sprach mit dem eXXpress über die Bedrohung durch Russland, sowie über die Situation der Russen in Lettland, die Wiedereinführung des Wehrdienstes und einen NATO-Beitritt der Ukraine.
Im ersten Jahr nach Russlands Invasion hat Lettland 1,2 % seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) in bilaterale Hilfe für die Ukraine gesteckt – mehr als irgend ein anderes Land, wie das Institut für Weltwirtschaft in Kiel ermittelt hat. Aufhorchen ließ das lettische Verteidigungsministerium auch im vergangenen April: Alle sich noch im Bestand der Streitkräfte befindlichen Flugabwehrraketen vom Typ Stinger wurden an Kiew übergeben. Zudem plante man eine intensivere Ausbildung ukrainischer Soldaten im eigenen Land.
Guna Japina (48), Lettlands Botschafterin in Österreich, erläutert im Interview mit dem eXXpress, warum der baltische Staat so viel für die Ukraine tut, und wie Lettland generell die Bedrohung durch Russland einschätzt.
Guna Lapina schloss im Jahr 2000 das Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Lettland mit dem Master ab. Die erfahrene Diplomatin begann vor mehr als 20 Jahren in Lettlands Außenministerium zu arbeiten. Bevor sie Botschafterin in Wien wurde, war sie von 2016 bis 2021 Direktorin der Konsularabteilung.
„Es ist feige zu warten, wer gewinnt“
Lettlands wurde wegen seiner Ukraine-Hilfe schon als besonders „opferbereit“ bezeichnet. Sehen Sie das auch so? Warum?
Ich kann mich nicht damit einverstanden erklären, dass die lettische Hilfe für die Ukraine als opferbereit bezeichnet werden sollte. Wir alle wissen, dass die Ukraine ihr Territorium verteidigt, für ihre Souveränität und territoriale Unteilbarkeit kämpft. Wir würden an Stelle der Ukraine das Gleiche tun. Ich denke, dass auch Österreich das Gleiche tun würde. Die Ukraine kämpft also nicht nur für sich selbst, sondern auch für uns. Ich glaube, man sollte nicht warten, wer gewinnt, und dann seine Position anpassen. Es ist feige und verräterisch in Bezug auf seine eigene Geschichte und auch sehr gefährlich. Deshalb unterstützen wir die Ukraine so weit wie möglich.
🇱🇻 Botschafterin Guna Japiņa hat sich gefreut, den guten Kollegen und Freund, neuen Botschafter der Ukraine 🇺🇦 @VKhymynets in der Lettischen Botschaft zu begrüßen. pic.twitter.com/snCVmV5FRw
— Latvia in Austria (@Latvia_Austria) October 21, 2021
Einigen Stimmen zufolge ist der Krieg erst zu Ende, wenn Russland vollständig aus der Ukraine abzieht. Dem halten Andere entgegen, dass das die Ukraine auch mit militärischer Unterstützung durch den Westen nur schwer schaffen kann. Wie sieht man das in Lettland? Wie definiert man einen Sieg?
Russland führt einen aggressiven, umfassenden Krieg gegen die Ukraine. Die Ukraine muss also auch selbst definieren, was der Ukraine der Sieg in ihrem Kampf der Selbstverteidigung bedeutet. Lettland wird die Ukraine unterstützen, bis sie gewonnen hat.
Der Westen muss sein Engagement politisch und wirtschaftlich fortsetzen
Ministerpräsident Krišjānis Kariņš erklärte: „Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Putin schwächer wird.“ Das ist es aber, nehme ich an, was sich Lettland wünscht. Was müsste der Westen tun, nach Ansicht Lettlands, damit denn Putin schwächer wird?
Wie schwach oder mächtig Putin ist, zeichnet sich durch das heutige internationale Umfeld, verschiedene internationale Konferenzen und nicht zuletzt die Abstimmungen bei den Vereinten Nationen aus. Wir sehen, dass Russland sehr isoliert ist. Gegen Putin hat der Internationale Strafgerichtshof sogar einen Haftbefehl erlassen. Russland wird nur von einigen Ländern der Welt unterstützt, und einige andere Länder lavieren, profitieren von den bestehenden geopolitischen Spannungen oder versuchen, ihre Position präziser zu definieren. Ganz offensichtlich, das sind unvergleichbare Lager. Das, was der Westen heute tut, muss also sowohl politisch als auch wirtschaftlich fortgesetzt werden.
Mit Atomwaffen in Weißrussland will Moskau nur ablenken
Putin startet die Stationierung russischer Atomwaffen in Weißrussland. Wie ernst nimmt man das in Lettland? Verschärft sich damit die Bedrohungslage?
Aus unserer Sicht ändert dies nichts an der militärischen Bedrohung im Baltikum, da Atomwaffen in der Region Kaliningrad bereits stationiert sind. Wenn man sich die Karte anschaut, ist es offensichtlich, dass Kaliningrad von Lettland ungefähr so weit oder so nah entfernt ist wie Weißrussland. Die Stationierung von Atomwaffen in Weißrussland ist ein weiterer Versuch Russlands, die Lage in der Region so weit wie möglich zu destabilisieren. So versucht Russland, die Aufmerksamkeit vom eigenen Scheitern abzulenken und die Unterstützung der Ukraine zu beeinflussen.
„Der Suwalki-Korridor ist die Achillesferse der NATO“
Wovon zurzeit vergleichsweise wenig gesprochen wird: die Oblast Kaliningrad. Für wie bedrohlich hält man sie in Lettland?
Die Region Kaliningrad ist eine russische Exklave, die von allen Seiten von der EU und der NATO umgeben ist. Gefährlicher als dieses 15.000 Quadratkilometer große Territorium ist der sogenannte Suwalki-Korridor, der das Baltikum mit Polen verbindet. Es ist ein bekanntes Geheimnis, dass es die Achillesferse der NATO ist. Um dies zu verhindern, arbeiten wir mit anderen NATO-Staaten seit mehreren Jahren auch im militärischen Bereich an der Risikoprävention. Auch in Lettland gibt es eine multinationale NATO- Kampfgruppe, an der 10 von insgesamt 30 NATO-Staaten teilnehmen. Das ist eine starke Vertretung, und unsere Partner sind zuverlässig.
Der Anteil ethnischer Russen sinkt
Ein Viertel der lettischen Bevölkerung spricht Russisch als Muttersprache. Manche leben schon seit vielen Generationen in Lettland. Andere kamen erst in der Sowjet-Zeit hinzu. Hier ist der Anteil der Russen nochmals deutlich gestiegen. Sorgt das für Konflikte?
Die günstige geographische Lage Lettlands und die nicht zufrierenden Häfen haben im Laufe der Jahrhunderte viele Großmächte angezogen, daher ist Lettland, insbesondere die Hauptstadt Riga und Daugavpils, seit langem sehr multinational. Die Letten haben sicherlich keine Angst vor Nicht-Letten. Die Herkunft eines Menschen oder die Sprache, in der man zu Hause spricht, ist sicherlich kein Grund für Konflikte. Der Anteil der ethnischen Russen war 1989, also kurz vor der Wiederherstellung der lettischen Unabhängigkeit, am höchsten. Danach ist es allmählich zurückgegangen.
Ab 2020 werden auch Kinder von Nichtbürgern als lettische Staatsbürger registriert
Viele Russen sind sogenannte Nichtbürger, laut lettischem Recht „Menschen mit dauerhaftem Aufenthaltsrecht in Lettland, die weder die lettische noch eine andere Staatsbürgerschaft besitzen“. Diese Kategorie wurde 1991 eingeführt. Bis heute erhalten nur diejenigen Einwohner die lettische Staatsbürgerschaft, die entweder 1940 vor der sowjetischen Besatzung lettische Staatsbürger waren oder direkte Nachkommen solcher Personen sind. Der Anteil der Nichtbürger liegt bei knapp 10 Prozent. Warum? Damit wird doch einem Teil die Integration verunmöglicht?
Der Status der Nichtbürger wurde als ein vorübergehender Status eingeführt für Personen, die weder für den Erwerb der lettischen noch für den Erwerb einer anderen Staatsbürgerschaft eine Rechtsgrundlage hatten. Bald wurde ihnen das Recht auf lettische Einbürgerung eingeräumt. Die Zahl der Nichtbürger in Lettland ist drastisch zurückgegangen: 1996 waren es 27,2 % der Gesamtbevölkerung, 2007 – 17,2 % und jetzt nur etwa 10 %. Ab dem 1. Jänner 2020 werden Neugeborene auch dann als lettische Staatsbürger registriert, wenn ihre Eltern Nichtbürger sind. Die Zahl der Nichtbürger wird weiter zurückgehen. Der Status eines Nichtbürgers ist nach seinen Rechten und Pflichten dem eines Bürgers nahe, ein Nichtbürger ist kein Staatenloser. Ein Nichtbürger kann leben, arbeiten, reisen. Wenn man nicht das Ziel hat, bestimmte Stellen im Bereich der öffentlichen Verwaltung und Sicherheit zu besetzen und als Bürger am politischen Leben des Landes teilzunehmen, kann man auch ohne Einbürgerung gut leben.
„Der Kreml erfindet ein Problem, ohne sich für die Russen im Ausland zu ‚interessieren‘“
In Lettland werden die Waldbrüder als Helden gefeiert, die am Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg als Partisanen gegen die Besetzung durch die Sowjetunion kämpften. Umgekehrt berichtet das russische Staatsfernsehen immer wieder von einer angeblichen „Russophie“ in den baltischen Staaten. Scheint keine leichte Situation zu sein. Manche Stimmen warnen, dass die russisch-stämmige Minderheit in die Arme Putins getrieben werden könnte.
Lettland ist kein neuer Staat. Lettland wurde 1918 gegründet, das Konzept der Kontinuität der lettischen Staatlichkeit ist in Kraft. Die Besetzung der Sowjetunion, dann Hitlerdeutschlands, dann wiederum der Sowjetunion ist eine tragische Entwicklung in der Geschichte Lettlands. Der zweite Weltkrieg endete für uns deswegen erst mit der Wiederherstellung der Unabhängigkeit im Jahr 1990. Was die russische Propaganda berichtet, ist zweitrangig. Die Kreml-Narrative ist uns seit langem bekannt. Der Kreml erfindet das Problem selbst und ruft dann alle dazu auf, es zu glauben, um es dann zu bekämpfen, um ein eigenes und ganz anderes Ziel zu erreichen. Die Ereignisse in der Ukraine zeigen, wie sehr sich Russland heute tatsächlich für die Russen im Ausland „interessiert“ – bei Bombenangriffen sterben sowohl Ukrainer als auch Russen. Auch die Gebiete, in denen vornehmlich ethnische Russen leben, werden von Russland angegriffen.
Lettland führt die Wehrpflicht wieder ein. Nichtbürger sind nicht davon betroffen?
Nein, nur Bürger im Alter von 18 bis 27 Jahren können für den Militärdienst eingesetzt werden. Dies scheint zumindest in den meisten Ländern der Fall zu sein.
„Gott sei Dank sind wir NATO-Mitglied“
Warum setzen Sie nicht mehr nur auf Berufssoldaten und Freiwillige?
Das ist eine Reaktion auf die russische Aggression. In Lettland leben weniger als 1,9 Millionen Einwohner. Wir haben professionelle Streitkräfte und sogenannte Zemessardze (Landwehr) – ähnlich der österreichischen Miliz, dort ist der Dienst freiwillig. Und wir haben einen großen, besonderen Nachbarn – Russland –, der in Europa zu Instabilität führt. Es scheint, dass dies noch viele Jahre andauern wird. Es ist verständlich, dass der bisherige komfortable Ansatz heute nicht mehr passt. Gott sei Dank sind wir ein NATO- Mitglied. Um aber von anderen zu erwarten, dass sie ihren Beitrag leisten, muss man auch selbst einen Beitrag leisten können. Das tun wir auch: Lettland investiert bereits 2,3 % des BIP in Verteidigung und strebt in den kommenden Jahren zu 3 %, führt einen obligatorischen Militärdienst ein, baut ein neues, großes Ausbildungsgelände der NATO. Die russische Invasion hat gezeigt, dass eine ausreichende Zahl an der Waffe ausgebildeter Bürger langfristig sichergestellt werden muss, dass wir auch mehr Reservisten brauchen. Wir brauchen einfach mehr Menschen zur Verteidigung und zum Schutz.
Was hat Lettland dazu veranlasst, die Wehrpflicht 2007, einige Jahre nach dem Beitritt zur NATO, abzuschaffen?
Die Sicherheitsrisiken waren unterschiedlich. Damals standen im Vordergrund die Aufgaben, die mit der Teilnahme am internationalen Krisenmanagement verbunden waren.
„Russlands Invasion war ein Katalysator für die Wiederherstellung des Militärdienstes“
Lettland ist gewissermaßen der „Nachzügler“ unter den baltischen Staaten. Estland hat die Wehrpflicht nie abgeschafft, Litauen hat den Wehrdienst bereits 2015, infolge des Ukraine-Krieges, wiedereingeführt. Das hat Lettland nach 2014 nicht getan. Warum?
Die Erneuerung des Militärdienstes wurde bereits zu diesem Zeitpunkt diskutiert, aber die Erneuerung des Militärdienstes ist auch eine organisatorische Herausforderung: Ausbildung, Unterbringung, Materialversorgung usw. müssen gewährleistet werden. Russlands Invasion in der Ukraine war ein Katalysator für die Wiederherstellung des Militärdienstes. Wir haben diese Aufgabe erfüllt, und ab dem 1. Juli werden die ersten Freiwilligen ihren Dienst aufnehmen.
„Kurz nach Ende des Krieges sollte die Ukraine in die NATO aufgenommen werden“
Ist die Wiedereinführung der Wehrpflicht eine besondere Herausforderung bei der Jugend, die sich nun wieder umgewöhnen muss?
Wie man auf Deutsch sagt: Jein. In Lettland gibt es seit 2018 ein System der umfassenden Bereitschaft der Gesellschaft zur Landesverteidigung. Das bedeutet, dass staatliche Institutionen, private Unternehmen und die Gesellschaft im Allgemeinen dazu bereit sind, sich selbst, ihre Familien und Lettland im Falle einer Krise oder eines Krieges zu schützen. Auch junge Menschen sind Teil der Gesellschaft, und wir arbeiten daran, eine offene und entschlossene Gesellschaft zu haben, die bereit ist, jede militärische Bedrohung von Aussen abzuwehren. Lassen Sie uns ehrlich sein: Die Herausforderung ist nicht die Wiedereinführung der Wehrpflicht, sondern Putins Russland, das in Europa einen Krieg führt.
Befürwortet Lettland einen baldigen NATO-Beitritt der Ukraine? Präsident Biden ist zurückhaltend: Alle Kriterien, auch bei Korruption, müssen erfüllt werden.
Die Kriterien für die Erweiterung der NATO und der EU sind nicht identisch. Hinzu kommt, dass die Aufnahme in die NATO nicht so detailliert geregelt ist wie in der EU. Es ist verständlich, dass die NATO kein Land aufnehmen kann, das sich im Krieg befindet. Daher glauben wir, dass die Ukraine kurz nach dem Ende des Krieges in die NATO aufgenommen werden sollte. Nur ein vollwertiger Beitritt der Ukraine zur Allianz wird Frieden in der Ukraine und in Europa schaffen.
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