Die instabile Lage in Afghanistan wird zur Gefahr für Europa
Seit die USA den Truppenabzug aus Afghanistan angekündigt haben, warnen Kenner der Region vor einem massiven Anstieg der Gewalt, denn die Taliban wollen wieder die Führung im Land übernehmen. Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Regierungstruppen und den Taliban können auch für Europa große Auswirkungen haben.
Victor Orban ist der erste europäische Staatschef der offen die Gefahr, die vom Truppenabzug in Afghanistan ausgeht, anspricht. Und zwar nicht nur für die Region, sondern auch für die EU. „Europa steht eine Ära der Gefahren bevor“, sagt der ungarische Premier in einem Radio-Interview. „Wir müssen uns vorbereiten! Nach dem Abzug der US-Truppen und der NATO aus Afghanistan ist mit einer riesigen Flüchtlingswelle zu rechnen“, so Orban. „Wir werden unsere Position in Sachen Migration beibehalten und alles dafür tun, um den Ansturm zu verhindern.“
Afghanische Flüchtlinge werden weiterziehen
Das Nachbarland Tadschikistan hat bereits vor zwei Wochen erklärt, es rechne mit einem Anstieg afghanischer Flüchtlinge. Auch pakistanische Geheimdienstler sagen, dass es erste Vorbereitungen für die Reaktivierung von Flüchtlingslagern in Pakistan gebe.
Kämpfe verschärfen sich
Seit dem Beginn des Abzugs der US- und NATO-Truppen im Mai haben sich die Kämpfe zwischen Regierungstruppen und den Taliban in Afghanistan verstärkt. Beobachter befürchten, dass die Miliz nach dem vollständigen Abzug der NATO-Streitkräfte wieder die Macht in dem Land übernehmen könnte. Die Islamisten sind in vielen Landesteilen auf dem Vormarsch. Das afghanische Verteidigungsministerium kündigte am Dienstag eine Gegenoffensive gegen die Taliban im Norden des Landes an.
In der Stadt Qala-i-Naw, der Hauptstadt der Provinz Badghis im Westen Afghanistans, brachen am Mittwoch heftige Kämpfe zwischen der afghanischen Armee und den Taliban aus. Alle umliegenden Bezirke haben die Islamisten bereits eingenommen.
“Der Feind ist in die Stadt eingedrungen, alle Bezirke sind gefallen. Die Kämpfe haben innerhalb der Stadt begonnen”, teilte der Gouverneur von Badghis, Hamssamuddin Shams, Journalisten in einer Textnachricht mit. Der Chef des Provinzrats von Badghis, Abdul Aziz Bek, und das Ratsmitglied Zia Gul Habibi bestätigten die Kämpfe. Einige Sicherheitsbeamte hätten sich in der Nacht bereits den Taliban ergeben.
Verständnis für die USA, Kritik an der eigenen Regierung
Der Fehler liege nicht bei den nun abziehenden USA, sondern bei der korrupten Regierung, sagt ein Soldat einer Spezialeinheit, der seine Enttäuschung über die Regierung Ghani nicht verbergen kann: “Sie haben gedacht, die Amerikaner bleiben ewig hier und sorgen ewig für unsere Sicherheit.” Sie hätten Abermillionen an Geldern für den Aufbau der Sicherheitskräfte abgezweigt, aber keine schlagkräftige Armee aufgebaut. “Und wir, wir sollen uns jetzt für 300 Dollar Gehalt töten lassen.” Zudem herrsche vollkommene Planlosigkeit. An einem Tag solle sich seine Einheit darauf vorbereiten, einen Bezirk zurückzuerobern, am nächsten hieße es, nein, sie sollten doch einen hochrangigen Taliban in einer anderen Provinz gefangen nehmen, erzählt der Soldat weiter. “Sie haben keinen Plan, was sie tun sollen, wir haben überall Gefechte.”
Präsident Ashraf Ghani scheint die Kritik an seiner Person und seinem Regierungsstil nicht zu kümmern. Er gilt mittlerweile als abgehoben und realitätsfremd, westliche Diplomaten sagen, er lebe in einer Fantasiewelt. Er regiert mit einem engen Zirkel von lediglich drei weiteren Männern. Mitarbeiter und Berater, die ihm widersprechen, soll er anschreien.
Taliban gewinnen bei der Bevölkerung
Die Führungsriege der Taliban wiederum gibt sich volksnäher und verständnisvoller für akute Sorgen. Hochrangige Islamisten reisten kürzlich in die Provinz Daikundi und sprachen mit Angehörigen der Minderheit der schiitischen Hazara, Berichten zufolge um ihnen zu versichern, dass sie vonseiten der Taliban keine Probleme zu befürchten hätten. In Kabul ist in Gesprächen nun immer öfter zu hören: Wenn die Taliban ihre Brutalität einstellten, seien sie doch insgesamt besser als die korrupte Regierung.
Truppenabzug beinahe fertig
Die US-Streitkräfte haben ihren Abzug aus Afghanistan zu “mehr als 90 Prozent” abgeschlossen. Diese Zahl nannte das US-Militärkommando Central Command am Dienstag. Im Zuge des “geordneten und verantwortungsvollen” Abzugs aus Afghanistan sei inzwischen die Entsprechung von 984 Flugzeugladungen Material aus dem Bürgerkriegsland gebracht worden. Sieben Stützpunkte seien offiziell dem afghanischen Verteidigungsministerium übergeben worden.
Vergangene Woche hatten die letzten US- und NATO-Soldaten den Militärstützpunkt Bagram verlassen. Der rund 50 Kilometer nördlich der afghanischen Hauptstadt Kabul gelegene Luftwaffenstützpunkt hatte als Hauptquartier der US-Streitkräfte in dem Land gedient. (APA/red)
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