Die Republik kommt nicht zur Ruhe: Seit Ibiza jagt ein Skandal den nächsten
Das “Ibiza-Video” bedeutete weit mehr, als das abrupte Ende der türkis-blauen Regierung: Es war der Startschuss für eine beispiellose Abfolge von Affären, die bis heute die Republik erschüttern – Stichwort: Schreddern, Casinos, ÖBAG, Notebook, Amtsgeheimnisverrat, Korruption, Falschaussage, Bestechung. Ein Rückblick.
17. Mai 2019: Ibiza-Video
Die deutschen Online-Medien Süddeutsche.de und Spiegel Online veröffentlichen Ausschnitte des „Ibiza“-Videos. Am Folgetag erklärt Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) seinen Rücktritt, am Abend erklärt Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) die Koalition für beendet.
20. Mai 2019: Soko Ibiza
Ein Ermittlungsverfahren wegen Verdachts auf „Untreue“, „Anstiftung zur Untreue“ und „Vorteilsannahme zur Beeinflussung“ wird gegen den ehemaligen FPÖ-Politiker Johann Gudenus eingeleitet. Mit Soko Ibiza wurde eine neue Sonderemission eingerichtet.
1. Juni 2019: Casinos-Affäre
Bei der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) geht eine anonyme Anzeige ein, die detailliertes Insiderwissen beinhalten soll. Deshalb erlässt die WKStA am 1. Juni 2019 Ermittlungsanordnungen. Erstmals berichtete der Standard am 4. Juni 2019 darüber. Es stehen Vorwürfe über mutmaßliche Absprachen zwischen Politikern der damaligen Regierungsparteien ÖVP und FPÖ sowie dem Glückspielkonzern Novomatic im Raum.
20. Juli 2019: Schredder-Affäre
Die Tageszeitung Kurier bringt die “Schredder-Affäre” an die Öffentlichkeit: Es geht um den Kurz-Mitarbeiter Arno M., der fünf Tage nach der Veröffentlichung des Ibiza-Videos Datenträger vernichten lässt. Zunächst ist nur von einer Druckerfestplatte die Rede. Wenig später veröffentlicht der Falter ein Überwachungsvideo, das Arno M. beim Schreddern zeigt. Es wird klar, dass in Wahrheit fünf Festplatten zerstört wurden. Kurz spricht von einem “üblichen Vorgang”, weitere Ermittlungen verlaufen ergebnislos.
12. August 2019: Hausdurchsuchungen
Auf Grundlage der ersten Anzeige und einer Zeugeneinvernahme im Zusammenhang mit der Casinos-Affäre führt die WKStA acht Hausdurchsuchungen durch – wegen des Verdachts der Bestechung bzw. Bestechlichkeit. Betroffen davon sind Heinz-Christian Strache, Johann Gudenus, Casinos-Austria-Vorstand Peter Sidlo, FPÖ-Bezirksrat in Wien-Alsergrund, der Novomatic-Vorstandsvorsitzende Harald Neumann, sowie Novomatic-Eigentümer Johann Graf. Alle Verdächtigten weisen die Vorwürfe “vehement zurück“.
12. November 2019: Weitere Hausdurchsuchungen
Im Zuge der Casinos-Affäre finden weitere Hausdurchsuchungen statt, diesmal bei Ex-Finanzminister Hartwig Löger, Ex-Finanzminister und Casinos-Aufsichtsratspräsident Josef Pröll (ÖVP), Casinos-Aufsichtsratspräsident Walter Rothensteiner, der staatlichen Beteiligungsgesellschaft ÖBAG und bei ÖBAG-Chef Thomas Schmid. Dabei werden Mobiltelefone von Löger und Pröll beschlagnahmt. Der Tageszeitung Die Presse soll eine Aktennotiz Rothensteiners vorliegen, nach der Rothensteiner und Löger vor Sidlos Bestellung von einem “Hintergrunddeal” von Novomatic-Gründer Johann Graf “mit den Blauen” gewusst haben und wonach die Bestellung Sidlos “ein Muss” gewesen sein soll.
14. Mai 2020: Auftritt im Kleinwalsertal
Ab dem Frühjahr überschattet die Corona-Pandemie das Geschehen, neue Affären kommen nicht ans Tageslicht.Einzig als Innenminister Karl Nehammer vor “Lebensgefährdern” warnt, und später Kanzler Kurz seinen Auftritt im Vorarlberger Kleinwalsertal absolviert, ganz ohne Maske und Abstand, sehen einige eine Verletzung der eigenen Corona-Bestimmungen durch den Kanzler.
4. Juni 2020: Der Ibiza-Ausschuss beginnt
Im Parlament beginnt der “Untersuchungsausschuss betreffend mutmaßliche Käuflichkeit der türkis-blauen Bundesregierung” unter Nationalratspräsident der ÖVP-Politiker Wolfgang Sobotka. Wie schon der Titel verrät, geht es um weit mehr, als “nur” um das Ibiza-Video. Im Gegenteil: Wer die eigentlichen Hintermänner des Ibiza-Komplotts sind, kann der Ausschuss nicht ans Licht bringen, dafür beschäftigen ihn bald sämtliche andere Polit-Affären, die zunehmend im Umfeld der ÖVP verankert sind.
2. November 2020: Terroranschlag
Am letzten Tag vor Beginn eines neuen Lockdowns verübt der 20-jährige Kujtim F. einen Terroranschlag in Wien, bei dem er vier Menschen töten und 23 Menschen verletzt. In der Folge gerät das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung in Kritik. Es hätte den Anschlag verhindern können, so der Vorwurf. Auch wenn der Innenminister dementiert, wird der Anschlag zum Anlass, um das Amt zu reformieren und aus dem Verfassungsschutz endlich einen Nachrichtendienst zu machen, so wie in anderen Ländern.
11. Februar 2021: Hausdurchsuchung Blümel
Am 11. Februar 2021 findet in der Wohnung von Finanzminister Blümel eine Hausdurchsuchung statt – wegen des Verdachts der Korruption und Bestechlichkeit – wieder in Zusammenhang mit der Casinos-Affäre. Blümel und der ebenfalls beschuldigte Novomatic-Vorstandsvorsitzender Harald Neumann bestreiten die Vorwürfe. Doch die Causa geht weiter: Zunächst scheitert die Opposition am 16. Februar mit einem Misstrauensantrag gegen Blümel. Am 25. Februar wurden von der WKStA E-Mails im Finanzministerium sichergestellt. Für weitere Kontroverse sorgt Blümels Laptop. Es geht um die Frage, ob er einen im Ministerium hat und benützt. Wie sich weiters herausstellt: Bei der Hausdurchsuchung bei Gernot Blümel wurde ein von ihm und seiner Frau gemeinsam benutzter Laptop von den Ermittlern zuerst nicht gefunden, weil dessen Gattin ihn auf einen Spaziergang mitgenommen hatte.
25. Februar 2021: Verrat von Amtsgeheimnissen?
Ermittler der Staatsanwaltschaft Wien stellen beim ehemaligen Justizminister und damaligen Verfassungsrichter Wolfgang Brandstetter ein Notebook und bei Justizsektionschef Christian Pilnacek zwei Handys sicher. Gegen beide wird wegen Verletzung des Amtsgeheimnisses ermittelt. Sie sollen eine Hausdurchsuchung bei Michael Tojner im Zusammenhang mit der “Causa Stadterweiterungsfonds” verraten haben. Pilnacek wird vorläufig suspendiert. Nach Auswertung der Handys wird der Verdacht ausgeweitet: Gegen Pilnacek und Johann Fuchs, Leiter der Oberstaatsanwaltschaft Wien, wird nun auch noch ermittelt, weil sie Amtsgeheimnisse in der Causa Ibiza verraten haben sollen.
28. März 2021: SMS-Nachrichten und Rücktrittsaufforderungen
Dem Ibiza-U-Ausschuss werden Chat-Nachrichten von ÖBAG-Chef Thomas Schmid durch die WKStA übergeben. Durch Leaks gelangen die geheimen SMS an die Öffentlichkeit. Das führte zu breiter Medienaufmerksamkeit und Rücktrittsaufforderungen der Opposition gegenüber Finanzminister Blümel und ÖBAG-Vorstand Thomas Schmid.
5. Mai 2021: Bundesexekution in der "Ibiza-Affäre"
Der österreichische Verfassungsgerichtshof stellt an Bundespräsident Alexander Van der Bellen den Antrag, eine seiner Entscheidungen vom 3. März 2021 zu exekutieren (Bundesexekution). Der Grund: Finanzminister Blümel hatte bisher nicht die ihm vom Verfassungsgerichtshof auferlegte Verpflichtung zur Lieferung von Informationen in der Ibiza-Affäre erfüllt. Kritiker werfen Blümel einen sehr schweren Verstoß gegen die Rechtsordnung vor. Der Finanzminister rechtfertigt sich mit den sensiblen Daten Dritte, die sich in den angeforderten E-Mail-Postfächern befunden hätten, wie etwa schutzwürdigen Krankenstandsdaten von Mitarbeitern. Er habe sensibel vorgehen wollen, um alle Rechte zu wahren. Am selben Tag wurden vom Finanzministerium die geforderten Akten als Papierausdrucke in 204 Aktenordnern geliefert.
12. Mai 2021: Falschaussage
Die WKStA nimmt nach einer Anzeige der NEOS Ermittlungen gegen Kurz und seinen Kabinettschef Bernhard Bonelli auf. Beide werden der Falschaussage vor dem “Ibiza-Ausschuss” verdächtigt und nunmehr als Beschuldigte geführt. Es geht dabei um Aussagen zu den Vorgängen um die Bestellung des Aufsichtsrats der Österreichischen Beteiligungs AG (ÖBAG).
6. Oktober 2021: Ermittlungen wegen Korruption, geschönter Umfragen und Betrug
Weitere Ermittlungen gegen Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und sein nächstes Umfeld erschüttern die türkis-grüne Koalition: Im Kanzleramt, in der ÖVP-Zentrale, im Finanzministerium und bei der Tageszeitung Österreich finden Hausdurchsuchungen statt – diesmal wegen des Verdachts der Beteiligung an Untreue und Bestechlichkeit. Sämtliche Personen aus dem direkten Umfeld des Kanzlers sind ebenfalls betroffen, darunter Thomas Schmid, Ex-ÖVP-Generalsekretar Stefan Steiner, der Pressekoordinator der ÖVP-Ministerien und Ex-Pressesprecher des Kanzleramts Johannes Frischmann, der Vize-Kabinettschef des Kanzleramts Gerald Fleischmann. Weitere Verdächtigte sind die ehemalige ÖVP-Familienministerin Sophie Karmasin, die Medienmacher Helmuth und Wolfgang Fellner, die oe24 GMBH und die ÖVP.
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