In einer Analyse für das sicherheitspolitische Portal Russia Matters warnt der ehemalige US-Oberstleutnant Alex Vershinin vor einem möglichen militärischen Zusammenbruch der Ukraine in den kommenden sechs bis zwölf Monate. Während die USA unter Trump-nahen Führungspersonal wie Verteidigungsminister Pete Hegseth bereits deutliche Friedenssignale senden – etwa durch das Zurückstellen einer NATO-Perspektive für Kiew – hält die EU weiter am Motto „so lange wie nötig“ fest. Sie wolle aus einer vermeintlichen „Position der Stärke“ verhandeln, doch das sei eine Illusion, die im kommenden Jahr in einer Katastrophe münden könnte.

Trump (mit Selenskyj) setzte bisher auf Verhandlungen mit Putin. Diese Strategie sei noch erfolgsversprechender, als jene der EU, klagt der Militäranalyst.APA/AFP/Tierney L CROSS

Schlechter Friede noch das Beste?

Vershinin räumt ein: Bei Verhandlungen zum jetzigen Zeitpunkt käme nicht viel mehr heraus als ein „ausgehandelter Frieden zu russischen Bedingungen“ – und das „wäre schlecht“. Doch das wäre weitaus besser als „auf eine unwahrscheinliche Verbesserung der Bedingungen auf dem Schlachtfeld zu setzen und zu verlieren“. Deshalb dürfte Washington „den ersten Weg einschlagen“.

Die EU hingegen verfolgt weiterhin den zweiten Weg und setzt auf „so lange wie nötig“, ohne zu erkennen, dass Stärke durch Kampfkraft und industrielle Kapazitäten besteht – nicht in mutigen Erklärungen.

Ursula von der Leyen bei einem ihrer zahlreichen Treffen mit Wolodymyr Selenskyj: Wird die Ukraine mit Diplomatie gewinnen – oder doch eher mit militärischen Erfolgen?GETTYIMAGES/NurPhoto

Vershinin – ein erfahrener Experte

Vershinin diente 20 Jahre in der US-Armee, darunter acht Jahre als Panzeroffizier mit vier Kampfeinsätzen im Irak, Afghanistan und Korea. Seit seiner Pensionierung 2022 arbeitet er als Berater und Autor und ist spezialisiert auf moderne Kriegsführung. In seiner Analyse geht er hart ins Gericht mit der militärischen Lage.

Frauen stehen weinend neben einem zerstörten Wohnhaus in Mykolaiv. Militärexperte Alex Vershinin warnt: Es droht ein Kollaps der Ukraine.GETTYIMAGES/Serhii Ovcharyshyn/NikVesti.com/Global Images Ukraine

Ein Abnutzungskrieg wie im Ersten Weltkrieg

Der Ukraine-Krieg sei längst ein klassischer Abnutzungskrieg. Es geht nicht um Geländegewinne, sondern um das Management von Ressourcen. Wer seine eigenen Kräfte besser schont und dem Feind mehr Verluste zufügt, gewinnt. Fehlt die Kohärenz in den Truppen, ist nur noch eine defensive Haltung möglich.

Vershinin vergleicht den Ukraine-Krieg mit dem Spanischen Bürgerkrieg und dem Ersten Weltkrieg, in denen die Frontlinien über lange Zeit nahezu unbeweglich blieben.

Tod und Zerstörung nehmen kein Ende: Bei einem groß angelegten russischen Angriff auf ein Wohngebäude in Dobropillia wurden 11 Menschen getötet und 47 verletzt.GETTYIMAGES/Paula Bronstein

Russlands Strategie: Rückzug und Auffrischung

Russland habe nach der gescheiterten Blitzkriegphase im Frühjahr 2022 die Strategie des Abnutzungskriegs eingeschlagen und Territorium bewusst aufgegeben, um erfahrene Soldaten zu retten, die später den Kern der Armee bildeten.

Laut Mediazona und BBC liegt die Zahl der bestätigten russischen Toten bei 98.000; realistisch dürften es inklusive der Separatisten etwa 185.000 sein. Diese Verluste werden durch monatliche Rekrutierungen von etwa 30.000 Freiwilligen und die Rückkehr von Verwundeten aufgefangen. Dank eines funktionierenden Wehrpflichtsystems und einer starken militärischen Industrie kann Russland seine Armee kontinuierlich aufstocken. Diese wächst trotz hoher Verluste monatlich um zirka 24.000 Soldaten.

Wladimir Putin inspiziert am 20. Oktober 2022 in der Region Ryazan Rekruten, die im Rahmen der teilweisen Mobilisierung für den Einsatz vorbereitet werden.GETTYIMAGES/Kremlin Press Office/Handout/Anadolu Agency

Russlands Schwäche: Seilschaften

Trotz dieser Stärke kritisiert Vershinin das „System aus Seilschaften“ in der russischen Armee. Korruption und inkompetente Offiziere werden häufig nicht bestraft, was zu unnötigen Verlusten führt. Kritische Stimmen wie General Popow (58. Armee) werden ausgeschaltet – trotz militärischer Erfolge. Diese Dysfunktionen haben laut Vershinin die russischen Verluste „faktisch verdoppelt“.

Zerstörung in Bakhmut: Sie Stadt wurde lange verteidigt – unter gewaltigen Verlusten.GETTYIMAGES/Defense of Ukraine / Handout/Anadolu Agency

Ukraine: PR statt Strategie – mit tödlichen Folgen

Vershinin wirft der ukrainischen Führung vor, Symbolpolitik über militärische Logik gestellt zu haben, mit verheerenden Folgen. Besonders die Verteidigung von Bakhmut, die 48.000 bis 96.000 ukrainische Soldaten das Leben kostete, sei aus militärischer Sicht nicht zu rechtfertigen gewesen. Bakhmut hatte keinen strategischen Wert, wurde aber aus Symbolgründen um jeden Preis verteidigt.

Ein ukrainischer Soldat der 13. Khartiia-Brigade in einem Graben während eines Schneesturms in Charkiw, Ukraine, am 6. Dezember 2024.GETTYIMAGES/Nikoletta Stoyanova

Krinki: Britische Idee, ukrainisches Debakel

Die ukrainische Marine wurde auf Drängen britischer Berater in eine hoffnungslose Offensive bei Krinki geschickt. Das Ziel, die Krim zu erreichen, war militärisch unmöglich, da Russland die Kontrolle über den Dnipro-Fluss und dessen Brücken besaß. Die Folge war der Verlust der Marineinfanterie und zweier Artilleriebrigaden.

Personalmangel und Materialmangel

Laut Vershinin leidet die Ukraine unter dramatischem Personal- und Materialmangel. Zwangsrekrutierungen nehmen zu, und viele Männer werden „von der Straße gegriffen“. Mehr als 100.000 Deserteure hat die Ukraine mittlerweile laut verschiedenen Quellen zu beklagen. Ohne eine „wundersame Quelle“ für erfahrene Soldaten könnte die ukrainische Armee in den nächsten sechs bis zwölf Monaten zusammenbrechen, warnt der Experte.

Eine russische Luftbombe auf Kherson hat in einem Wohnhaus eingeschlagen.GETTYIMAGES/Kherson Regional Military Admin./Anadolu

Das Dilemma des Westens

Vershinin schlägt Alarm: Ein ukrainischer Zusammenbruch trotz westlicher Hilfe würde die Glaubwürdigkeit der liberalen Weltordnung schwer erschüttern. Laut Kaufkraftparität (PPP-Daten) führt Asien wirtschaftlich, während Russland vor Japan und Deutschland liegt. Ein militärischer Kollaps in der Ukraine könnte Staaten weltweit dazu bewegen, wieder auf militärische Lösungen zu setzen. Der US-Dollar, als globaler Maßstab, würde an Bedeutung verlieren.

EU-Politiker bei einem Treffen im Élysée-Palast in Paris. Doch große Worte und pompöse Treffen allein bringen die Ukraine im Krieg nicht weiter.APA/AFP/Ludovic MARIN

Friedensverhandlungen: Jetzt oder zu spät

Die Zeit spielt für Russland. Vershinin bezweifelt, dass Moskau einem Waffenstillstand ohne Friedensvertrag zustimmen wird. Wenn der Ukraine-Kollaps Realität wird, könnten die russischen Forderungen erheblich steigen. Es könnte nicht nur um die Krim, die vier Oblaste und den NATO-Beitritt gehen, sondern auch um die komplette Kontrolle über Noworossija (Charkiw, Odessa, Dnipro) und mögliche Ansprüche auf Gebiete in Rumänien.

Vershinin stellt abschließend die aus seiner Sicht entscheidende Frage: „Kann die Ukraine jetzt einen harten, aber tragbaren Frieden erzielen – oder kämpft sie weiter und riskiert später den totalen Zusammenbruch unter russischer Diktat-Friedensordnung?“

Russia Matters, das Medium, in dem Vershinins Analyse erschienen ist, wurde vom Belfer Center for Science and International Affairs an der Harvard Kennedy School gegründet, einer der weltweit führenden Denkfabriken im Bereich internationale Sicherheit, Wissenschaft und Technologiepolitik.