Die CDU passt sich seit 30 Jahren den Grünen an, sagt der Historiker und Bestseller-Autor Rainer Zitelmann im eXXpress-Interview
Bereits 1994 prognostizierte Rainer Zitelmann: Die Grünen werden zur tonangebenden Kraft in Deutschland werden. Im eXXpress-Interview spricht er über die langfristigen Ursachen des Grünen Aufstiegs, etwa die Stärke der Grünen bei den Medien oder die schon damalige innere Schwäche der CDU.
Verblüffend aktuell sind die Prognosen, die der deutsche Historiker und Autor Rainer Zitelmann in seinem 1994 erschienenen Buch „Wohin treibt unsere Republik? Wie Deutschland links und grün wurde“ anstellt: Die Grünen werden demnach zu Deutschlands tonangebender Partei werden, rechts von der CDU könnte eine neue Partei entstehen, in der aber die radikalen Kräfte die moderaten vertreiben werden. Nun hat Zitelmann das Buch neu aufgelegt. Im eXXpress-Interview spricht er über die langfristigen Ursachen des aus seiner Sicht unerfreulichen Aufstiegs der Grünen.
Bereits 1994 sahen Sie die Grünen weit mächtiger, als es ihre Wahlergebnisse vermuten ließen. Worin zeigte sich damals ihre Macht?
Es ist ein großer Fehler, den Einfluss der Grünen anhand ihrer Wahlergebnisse zu messen. Bei den Wahlen 1990 waren die Grünen an der 5-Prozent-Hürde gescheitert. 1994, das Jahr in dem ich das Buch schrieb, waren sie mit nur 7,3 Prozent wieder in den Bundestag zurückgekehrt. Aber die Macht der Grünen beruhte nie vor allem auf Wahlergebnissen, sondern darauf, dass sie mit ihren Themen und Inhalten den Zeitgeist bestimmten.
"Die Widersacher waren innerlich bereits aufgeweicht"
Sie prognostizierten, dass die Grünen künftig tonangebend sein werden. Sehen Sie sich heute bestätigt?
Ja natürlich. 1994 schrieb ich: „Die Einwirkungen der grünen Partei gehen weit über ihre Beteiligung an Landesregierungen und die in Wahlen dokumentierten Erfolge hinaus. Entscheidender ist, dass es den Grünen immer wieder gelang, politische Themen zu besetzen und die Meinungsführerschaft in der öffentlichen Diskussion zu übernehmen. Dies konnte jedoch nur geschehen, weil sie überdurchschnittlich viele Sympathisanten in den Medien hatten und haben und weil die Reihen ihrer natürlichen Widersacher, also parteipolitisch gesehen die CDU, bereits innerlich aufgeweicht waren und maßgebende Politiker der Union entscheidende Positionen der Grünen schon übernommen hatten.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Die Anpassung der CDU an die grüne Ideologie hat Ihnen zufolge schon damals, vor Merkel, stattgefunden. Inwiefern ist die CDU unter Helmut Kohl nach links gerutscht?
Diesem Thema widme ich ja ein ganzes Kapitel meines Buches. Dort zeige ich, dass Kohl Persönlichkeiten gefördert hat, die im Kern eine linke Ideologie vertraten. Ich zeige das u.a. am Beispiel von Heiner Geißler und Rita Süßmuth. Alles, was heute die Grünen kennzeichnet, finden wir bei diesen beiden CDU-Politikern: Bei Geißler einen starken Antikapitalismus (später, im Mai 2007 trat er dann konsequenterweise der linken, scharf antikapitalistischen Organisation Attac bei), aber auch den Feminismus. Auch Süßmuth war eine feministische Ideologin.
"Man hätte den Grünen etwas entgegensetzen müssen"
Wie hätten konservativ-liberale Kräfte in den 1990er Jahren auf den Aufstieg der Grünen reagieren sollen?
Der Fehler war der Glaube, wenn man sich an die Grünen anpasst, würden denen die Themen ausgehen. Wie naiv! Am Anfang der grünen Bewegung stand die Anti-AKW-Bewegung, also gegen Kernenergie. Merkel dachte allen Ernstes, sie nimmt den Grünen den Wind aus den Segeln, wenn sie die Kernkraftwerke abschaltet. Aber die haben sich nur bestärkt gefühlt und haben schon die nächsten Themen gehabt, zum Beispiel die Kohlekraftwerke. Jedes Zugehen auf die Grünen wurde richtigerweise von denen nur als Beleg dafür genommen, dass sie auf dem richtigen Weg sind. Und da die Parole der Grünen „Never enough“ ist, ist es völlig weltfremd zu glauben, durch eine Übernahme ihrer Inhalte könnte man sie schwächen. Man hätte den Grünen etwas entgegensetzen müssen, statt sich an sie anzupassen.
"Die Grünen waren und sind wirtschaftsfern"
Sie als Liberaler haben die Grünen schon damals kritisiert. Warum sind Sie über den Aufstieg der Grünen so besorgt?
Die Grünen waren und sind wirtschaftsfern. Schauen Sie sich die Biografien der führenden Personen an. Die Grünen sind für unsere Gesellschaft viel negativer einzuschätzen als die „alte“ SPD, in der es deutlich mehr Leute gab, die irgendeinen Bezug zur Wirtschaft hatten. Aus der Wirtschaftsferne resultiert bei den Grünen eine geradezu feindselige Einstellung zum Markt, dem sie zutiefst misstrauen. Im Kern handelt es sich bei der grünen Weltanschauung einfach um eine Spielart des Antikapitalismus, den ich in meinem Buch „Der Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung“ kritisiere.
Was haben die Grünen und ihre Wegbereiter richtig gemacht?
Ich habe schon immer die These vertreten, dass Liberale und Konservative von den Methoden der Linken und Grünen lernen sollten, weil sich diese als erfolgreich herausgestellt haben. Konkret heißt dies: Grüne und Linke sind offensiv, greifen an. Liberale und Konservative sind meist defensiv-ängstlich. Hinzu kommt: Die Grünen und ihre Anhänger sind fantasievoller und verstehen mehr von PR: Greenpeace zum Beispiel versteht es, Bilder zu inszenieren, die dann in die Medien kommen. Und schließlich: Linke verstehen, wie wichtig der vorpolitische Raum ist und sie sind Meister im Agenda-Setting.
Schon damals wählten mehr Journalisten "Grüne" als CDU
Sie leiteten in den 1990er Jahren verschiedene Ressorts der Tageszeitung „Die Welt“ und kritisierten, dass die Medien den Grünen in die Hände spielten. Inwiefern?
In dem Buch veröffentlichte ich Zahlen aus einer Umfrage unter Journalisten von 1993. Demnach bezeichneten sich damals 15,3% der Journalisten als „konservativ“, „christdemokratisch“ oder „rechtsliberal“, 19,3% als liberal, aber 51,2% als „sozialdemokratisch“, „grün-alternativ“ oder „sozialistisch“. Auch bei der Frage nach der Parteipräferenz gaben damals bereits mehr Journalisten „Grüne“ als CDU/CSU an, obwohl die Union bei den Wahlen fast fünf Mal so viel Stimmen bekam wie die Grünen. Übrigens hatten wir wenige Jahre später in der Redaktion der „Welt“ intern eine „Wahl“ abgehalten, und bei dieser Wahl ergab sich eine Rot-grüne-Mehrheit in der Redaktion (und dies, obwohl die „Welt“ als konservativ galt).
Sie schreiben in Ihrem Buch: „Zwar entscheiden die Wähler alle vier Jahre über die Wiederwahl eines Politikers bzw. einer Partei, aber die Medien können praktisch täglich darüber entscheiden, ob Verfehlungen eines Politikers zum ‚Skandal’ werden oder nicht.“ Wie aktuell ist das?
Das trifft nicht nur für Politiker zu, sondern auch für hohe Beamte. Denken Sie an den Fall “Maaßen”, den ehemaligen Präsidenenten des Bundesverfassungsschutzes. Nachdem Medien und Politiker von angeblichen “Hetzjagden” bei einer Demonstration in Sachsen gesprochen haben, wagte er, darauf hinzuweisen, dass es dafür keine Belege gebe. Er geriet dann sofort ins Kreuzfeuer einer Medienkampagne und musste schließlich den Hut nehmen. Die Macht der Medien beruht darauf, dass sie bestimmen, was ein Skandal ist.
Bei Politischer Korrektheit mehren sich die Gegenstimmen
Ebenso warnen Sie schon damals vor der Politischen Korrektheit, die freie Debatten – etwa über Zuwanderung – „moralisiert und ideologisiert“, und dadurch „pragmatische Lösungen erschwert“. Hat die Politische Korrektheit Politik und Öffentlichkeit seither verändert?
Man sieht ja in dem Buch, dass die politische Korrektheit keine Erfindung der letzten zehn oder zwanzig Jahre ist. Es gab damals schon die Sprechverbote und Tabus. Doch ich bin hier nicht ganz so pessimistisch: Die Linken übertreiben es so stark mit ihrer Sprachpolizei, dass sie damit Gegenreaktionen provozieren, sogar aus den eigenen Reihen. Ich habe gerade das Buch von Sahra Wagenknecht besprochen, das in weiten Teilen eine Kampfschrift gegen die Political Correctness und die Cancel Culture ist.
Wenn die CDU ihre konservativen Positionen aufgibt, wird eine Partei rechts von ihr entstehen, die aber sehr bald problematische, rechtsextreme Züge annehmen wird. So lautete 1994 Ihre Prognose. Wie kamen Sie schon damals zu dieser Einschätzung, die viele heute als erstaunlich hellsichtig bezeichnen werden?
Ich empfehle jedem, diese Gedanken auf Seite 195/196 in dem Buch nachzulesen. Ich bin kein Prophet, sondern habe dieses Szenario aus ganz bestimmten Beobachtungen heraus entwickelt. Mir war klar, dass die CDU/CSU in dem Maße, wie sie vergrünt und sich sozialdemokratisiert, Konservative, Marktwirtschaftler und demokratische Rechte nicht mehr einbinden kann und sich daher eine neue Partei bilden wird. Es war aber auch klar, dass diese Partei von der Union und den linken Parteien und Medien von Anfang an aufs Schärfste als rechtsextrem bekämpft werden wird. Und so ist es dann ja gekommen.
Warum die AfD sukzessive nach rechts rutscht
Wie beurteilen Sie die AfD?
Unter Henkel und Lucke war die AfD eine Partei, deren Positionen ich in mancher Hinsicht teilen konnte, besonders in den wirtschaftsliberalen Elementen. Aber auch Lucke wurde sofort als Nazi ausgegrenzt und seine Partei als rechtsradikal dargestellt, was sie damals natürlich nicht war. Die Folge war jedoch, und genau das hatte ich vorhergesagt, dass moderate Kräfte aus der AfD gegangen sind und sie keine neuen Moderaten und Wirtschaftsliberalen mehr gewinnen konnte. Und dass aber andererseits Rechtsaußen-Leute gezielt versucht haben, die Partei zu unterwandern. Seit Gründung der AfD kann man beobachten, dass genau das geschehen ist, was ich damals vorhergesagt hatte, nämlich eine ständige, sukzessive Rechtsverschiebung. Das ist damit verbunden gewesen, dass sogenannte „Sozialpatrioten“ ihre Position zugunsten der Marktwirtschaftler immer weiter ausbauen konnten.
Die CDU sollte einen modernen, aber „national orientierten Konservativismus“ vertreten, forderten Sie damals. Diese Formulierung wird einige abschrecken. Wie haben Sie das gemeint?
Ich selbst ordne meine Position irgendwo zwischen libertär und national-liberal ein, konservativ bin ich nicht – und war es nie gewesen. Aber natürlich gehört zum demokratischen Spektrum auch ein national orientierter Konservativismus. Leute wie Alfred Dregger, den ich kannte und schätzte, haben diesen Teil in der Union eingebunden. Die Angst der Deutschen vor dem Begriff „Nation“ verstehe ich nicht.
FDP soll wirtschaftliche und geistige Freiheit verteidigen
Haben sich auch Ihre eigenen politischen Ansichten seither verändert? Inwiefern?
Ein Mensch, der innerhalb von 27 Jahren seine politischen Ansichten völlig unverändert lässt, ist für mich ein starrsinniger Dummkopf. In einem Buch über Charlie Munger, den sehr klugen Partner von Warren Buffet, habe ich gelesen, dass er sagt, “that a year in which you do not change your mind on some big idea that is important to you is a wasted year” („Ein Jahr, in dem man seine Meinung über eine große Idee, die einem wichtig ist, nicht ändert, ist ein verschwendetes Jahr“). Ich habe mein Buch trotzdem 1:1 so nachgedruckt, wie es damals veröffentlicht worden war, damit man nicht glaubt, ich hätte im Wissen um die spätere Entwicklung einige Passagen angepasst oder umgeschrieben. Ich habe nur ein neues Vorwort hinzugefügt, das man übrigens auch online lesen kann.
Sie sind bis heute FDP-Mitglied, sparen aber nicht mit Kritik. Was sollte die FDP anders machen?
Ich war damals Mitglied der FDP und bin es bis heute. Ich war jedoch immer ein kritisches Mitglied. Intellektuelle sind ja eigentlich nie Parteisoldaten. Die FDP steht meinen Meinungen in vieler Hinsicht am nächsten. Aber es gibt einen Punkt, wo ich ganz anderer Meinung bin als Christian Lindner – und wir haben oft darüber diskutiert: Ich sage: Neben der wirtschaftlichen Freiheit muss die geistige Freiheit das zentrale Thema der FDP sein. Das heißt konkret: Der Kampf gegen Political Correctness. Wolfgang Kubicki hat ein tolles Buch dazu geschrieben, aber in der Politik der FDP spielt das Thema kaum eine Rolle. Als Grund sehe ich die Angst vor dem linksgrünen Gegenwind. Sie wissen ja, dass ich als Teenager Maoist war. Das ist lange her. Aber einen Spruch aus der Mao-Bibel habe ich mir behalten: „Wenn der Feind uns bekämpft, dann ist das gut und nicht schlecht.“ Die Neue Zürcher Zeitung hat mal ein Porträt über mich gebracht, eine ganze Seite. Es war überschrieben: „Dieser Mann ist stets im Angriffsmodus unterwegs“.
Es gab eine Medienkampagne gegen die Union
Während der Corona-Zeit lagen CDU/CSU noch einmal deutlich auf Platz 1 in den Umfragen, doch nun haben die Grünen klar die Spitzenposition inne. Was ist der Grund für diesen plötzlichen Umschwung?
Die CDU stand ja schon vor der Corona-Krise schlecht da in den Umfragen. Zu Beginn der Krise konnte man den Eindruck haben, dass Merkel – anders als in allen anderen vorangegangenen Krisen – nicht versagt, sondern diesmal die Krise ordentlich managt. Das hat den Auftrieb in den Umfragen bewirkt. Aber dann wurde das totale Versagen in der Corona-Krise deutlich. Aber das ist nur eine Ursache: Man konnte beobachten, wie die Medien, besonders ARD und ZDF, im Zusammenhang mit der sogenannten Maskenaffäre eine richtige Kampagne gegen die Union inszeniert haben. Das Ziel war klar: Die Union sollte so weit dezimiert werden, dass der Weg frei ist für Grün-Rot-Rot.
"Gerhard Schröder hätte in der heutigen SPD keine Chance"
Zurzeit warnen Sie vor allem vor Rot-Rot-Grün und haben sogar erklärt: Dann wandern Sie aus. Wird es wirklich so schlimm?
Trotz allem, was ich an der deutschen Politik zu kritisieren habe, lebe ich gerne hier und liebe mein Land. Ich würde nur ungerne gehen. Aber andererseits habe ich Angst, den richtigen Zeitpunkt zu verpassen. Ich habe mir als Unternehmer ein Vermögen erwirtschaftet und nicht die geringste Lust, mir das von linksgrünen Umverteilern abnehmen zu lassen. Ich bin da hin- und hergerissen.
Die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder (SPD) von 1998 bis 2005 mutet aus heutiger Sicht fast rechts an, etwa mit Blick auf eine Agenda 2010, die Deutschlands Wirtschaft wieder vorangebracht hat, oder auf Innenminister Otto Schily, der für Law and Order stand, auch im Asylbereich. Warum lief es damals anders?
Ja, das war eine positiven Entwicklung, die ich in meinem Buch nicht vorhergesehen hatte. Schröder hat mit der Agenda 2010 eine liberale Reformpolitik betrieben. Heute hasst ihn die SPD dafür. Leute wie Kurt Schumacher, Willy Brandt, Helmut Schmidt oder Gerhard Schröder hätten heute keine Chance mehr in der SPD. Es ist eine ganz andere Partei geworden. Und ich finde es schade, dass an Stelle dieser alten SPD im linken Lager die Grünen getreten sind. Die Linksentwicklung der Gesellschaft, die ich in meinem Buch beschreibe und analysiere, hat eben nicht nur die CDU/CSU, sondern auch die SPD verändert.
Rainer Zitelmann, geboren 1957, ist promovierter Historiker und Soziologe. Insgesamt 24 Bücher hat er bisher verfasst oder herausgebracht. Sie wurden in sämtliche Sprachen übersetzt und sind oft in Asien besonders erfolgreich. Zitelmann arbeitete nach dem Geschichtsstudium zunächst als wissenschaftlicher Assistent an der FU Berlin, später war er Cheflektor des Ullstein-Propyläen-Verlages und dann Ressortleiter der „Welt”. 2000 gründete er ein Unternehmer, das Marktführer für die Kommunikationsberatung von Immobilienunternehmen wurde. Heute tritt Zitelmann vor allem als Autor in Erscheinung und ist Kolumnist bei zahlreichen internationalen Medien, unter anderem bei Forbes.
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