Zweieinhalb Wochen vor der deutschen Bundestagswahl verteidigte Alt-Kanzlerin Angela Merkel am Mittwochabend bei einer Veranstaltung der Wochenzeitung Die Zeit ihre Flüchtlingspolitik der offenen Grenzen.

So kam es dazu: Kurz nach dem Doppelmord von Aschaffenburg durch einen abgelehnten afghanischen Asylbewerber sagte CDU-Chef und Spitzenkandidat Friedrich Merz: „Das Maß ist endgültig voll. Wir stehen vor dem Scherbenhaufen einer seit zehn Jahren fehlgeleiteten Asyl- und Einwanderungspolitik”. Dieses Zitat ist – ohne ihren Namen zu nennen – eine Kritik an Angela Merkel, da ihre 16-jährige Kanzlerschaft in diese Zeit fällt.

Während der Flüchtlingskrise 2015 entschied sich das deutsche Oberhaupt, die deutschen Grenzen für Tausende aus Ungarn kommende Flüchtlinge offen zu halten. Diese Entscheidung führte dazu, dass bis zum Ende des Jahres fast eine Million Migranten ins Land kamen.

Migranten 2015 auf der Balkanroute Richtung Deutschland.IMAGO/Depositphotos

CDU-Chef Merz kritisiert Merkel indirekt

Bei einer Wahlkampfveranstaltung in Baden-Württemberg legte Merz nach: „Die AfD ist 2017 in den Bundestag gezogen, weil wir Fehler gemacht haben. Und sie sind 2021 wieder in den Bundestag gezogen – weil wir wieder Fehler gemacht haben.“ Der CDU-Parteivorsitzende macht hier unmissverständlich klar, dass Merkel fehlgeleitete Migrationspolitik dazu führte, dass die rechtspopulistische AfD stark werden konnte.

Bei der Veranstaltung in Hamburg wird Merkel von der Moderatorin gefragt, ob sie sich angesprochen fühle. Die Alt-Kanzlerin antwortet: „Na ja, also … das, äh … (Gelächter) Ja, natürlich.“ Und weiter: „Natürlich fühle ich mich davon angesprochen, jedenfalls was die Zeit zwischen 2015 und 2021 anbelangt (…) Das eine ist die Entscheidung, in der Nacht von 4. zum 5. September, als die Flüchtlinge aus Ungarn kamen, eine Entscheidung, die ich weiter für richtig halte. Und das andere ist, von einer Bundeskanzlerin erwartet man, dass die irreguläre Migration reduziert wird, und das haben wir sehr gut geschafft“, berichtet die Tageszeitung Bild.

Angela Merkel bei einer Veranstaltung der Wochenzeitung "Die Zeit" in Hamburg.APA/APA/AFP/Gregor Fischer

Wachstum der AfD: „Ist jetzt echt nicht meine Verantwortung“

Dann sagte Merkel noch: “Ich halte die Flüchtlingspolitik der letzten zehn Jahre nicht für verfehlt.” Allerdings sei noch eine ganze Menge zu tun, sagte Merkel etwa mit Blick auf das Durchsetzen von Ausreisepflichten oder die Digitalisierung von Ausländerämtern. “Da muss mehr getan werden und auf diesem Weg hätte man vielleicht auch hier und da schneller sein können. Aber verfehlt? Das kann ich so nicht akzeptieren”, sagte die Ex-Kanzlerin.

Dass die AfD in Umfragen heute bei 20 Prozent liegt, sieht Merkel nicht als Folge ihrer Migrationspolitik. „Dass sie heute bei 20 Prozent liegt, ist jetzt echt nicht mehr meine Verantwortung“, sagte die 70-Jährige wörtlich. Die Partei habe Auftrieb bekommen wegen eines Streits zwischen CDU und CSU, glaubt Merkel. Sie bemängelt einen fehlenden Willen. „Wären wir in dem Glauben rangegangen, ‚wir schaffen das‘, wäre es vielleicht anders gekommen“, meint sie.

Ex-Kanzlerin kritisiert Abstimmung mit Stimmen der AfD

Angesprochen darauf, was Merkel, wäre sie noch im Amt, nach den Anschlägen von Solingen, Mannheim, Aschaffenburg tun würde, gibt sie zur Antwort: „Jetzt kommen wir an den Punkt, an dem ich mich nicht in die Rolle hineinversetzen möchte… Ich möchte nicht zur aktuellen Politik Stellung nehmen“, sagt die Alt-Kanzlerin worteringend.

„Das ist Ihnen nicht gelungen letzte Woche“, wirft der Moderator ein. Damit bezieht er sich auf Merkels Attacke gegenüber Merz. Der CDU-Chef hatte in der vergangenen Woche seine Vorschläge zur Verschärfung der Migrationspolitik und einen Gesetzesentwurf im Deutschen Bundestag mit dem Wissen zur Abstimmung gebracht, dass eine Mehrheit nur mit Hilfe der AfD wahrscheinlich war. Der Entschließungsantrag wurde mit den Stimmen der AfD angenommen, der Gesetzentwurf scheiterte.

Merz hatte zuvor mehrfach betont, er schließe eine Zusammenarbeit mit der AfD aus. Merkel nannte es vergangene Woche als falsch, “sehenden Auges erstmalig bei einer Abstimmung im Deutschen Bundestag eine Mehrheit mit den Stimmen der AfD zu ermöglichen”.

Merkel: „Ich mische mich nicht in alles ein“

In Hamburg antwortet Merkel auf die Frage des Moderators so: „Ich mische mich nicht in alles ein, was ich höre, sondern es ging hier aus meiner Sicht um etwas Grundsätzliches“.

Auch während ihrer Kanzler-Zeit habe es schreckliche Attentate gegeben. Jedes Mal sei geschaut worden, was man besser machen könne. Einiges sei schon geschehen, aber das sei „natürlich nicht ausreichend“. Die Ex-Kanzlerin schließt mit: „Wir sind nicht so gut, wie wir sein müssen. Das sehen alle politischen Akteure“.