Wie schätzen Sie als ehemaliger Verteidigungsminister die sicherheitspolitische Lage Europas ein?

Die Sicherheitslage ist mehr als kritisch. Wir sehen uns in Europa mit multiplen und zum Teil hybriden Gefährdungen konfrontiert. Wir sind zwar aktuell nicht von Krieg bedroht, aber wir haben es über viele Jahrzehnte verabsäumt mehr Eigenverantwortung zu übernehmen. Jetzt ist man erschrocken über Donald Trump, der zwar unangenehm und unberechenbar ist, aber auch Richtiges sagt: Die Europäer haben sich jahrzehntelang unter dem Schutzschirm, den die Amerikaner aufgespannt und bezahlt haben, sicher gefühlt und andererseits das Geld, die sogenannte Friedensdividende, in die eigene Infrastruktur und das eigene Sozialsystem investiert. Was die Infrastruktur angeht, sind die USA im Vergleich zu Europa ein Entwicklungsland. Dass die Amerikaner irgendwann sagen: Jetzt ist Schluss – ist nicht ganz unverständlich, denn Europa hat sich so zig Milliarden Euro an Ausgaben erspart.

Europa muss jetzt zur Kenntnis nehmen, dass man sicherheitspolitisch kein Mitspieler ist, siehe die Blamage in Afghanistan, wo man völlig abhängig war von den Interessen der Amerikaner. Sobald die Amerikaner erklärt haben, dass sie dort keine Interessen mehr haben, mussten die Europäer das mangels Kapazitäten akzeptieren, obwohl sie durchaus noch ein Interesse daran hatten, dort zu bleiben. Ich glaube nicht, dass man Europas militärische Lage in kurzer Zeit ändern kann.

Oktober 2022: Herbert Scheibner (l.) besucht als Verteidigungsminister Assistenzsoldaten des Bundesheeres im burgenländischen Grenzort Baumgarten.APA/HBF/LECHNER

„Europa fehlen nicht die Soldaten, sondern die strategischen Mittel“

Wie lange wird es Ihrer Meinung nach dauern, bis Europa seine sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA überwunden hat?

Europa fehlt es nicht an Soldaten oder Panzern, sondern an strategischen Mitteln wie etwa Satelliten. Hier sind wir völlig von den USA abhängig – und so etwas ist sehr teuer. Aber das ist nicht alles: Bevor ich über europäische Verteidigungspolitik spreche, muss ich eine gemeinsame Linie in der Außen- und Sicherheitspolitik finden. Wo ist die europäische Linie zum Nahen Osten oder zu Afrika? Wir haben nicht einmal eine gemeinsame Linie innerhalb Europas: Einige Länder erkennen den Kosovo als unabhängigen Staat an, andere nicht. Solange wir uns in solchen Fragen nicht einig sind, brauchen wir über eine europäische Verteidigung nicht zu reden.

Ob NATO-Beitritt oder Neutralität: Man muss die Ideologie beiseite lassen

Die Verteidigungspolitik war den Freiheitlichen einmal wichtig. Jörg Haider forderte einst den Beitritt Österreichs zur NATO. Heute sieht sich die FPÖ eher als Verteidiger des Erbes Kreiskys und seiner Neutralitätspolitik. Was wäre Ihrer Meinung nach für Österreich sinnvoll?

Die Forderung nach einem NATO-Beitritt im damaligen FPÖ-Programm stammt von mir, aber nicht, weil wir so begeistert von der NATO waren, sondern weil es um eine sicherheitspolitische Frage geht, bei der man die Ideologie beiseite lassen sollte. Es geht ausschließlich um die Frage: Welche sicherheits- und verteidigungspolitische Strategie ist am besten geeignet, unsere Sicherheit zu gewährleisten? Da muss man sich dann fragen: Kann ich das besser alleine oder aufgrund des Aufwands in einem Verbund, der wie eine Versicherung ist: Ich zahle für die anderen, aber die anderen garantieren für mich. Ich war damals wie heute der Meinung, dass man das besser und billiger in einem Verbund macht.

Gemeinsam mit dem damaligen Bundespräsidenten Thomas Klestil (r.) beim Abschreiten der Garde im Rahmen des Nationalfeiertags auf dem HeldenplatzAPA/Barbara Gindl

„Die EU wird keine eigene Verteidigungsstruktur aufbauen“

Manche fordern eine europäische Verteidigungsstruktur. Was halten Sie davon?

Die NATO ist nicht optimal, die Abhängigkeit von den USA auch nicht. Aber in der EU wird sich keine eigene, von der NATO unabhängige, Verteidigungsstruktur entwickeln, weil die meisten EU-Länder bereits NATO-Mitglieder sind. Man kann höchstens versuchen, den europäischen Teil zu stärken, aber eine Doppelstruktur wird es nicht geben.

Nationalfeiertag 2000: Bundeskanzler Wofgang Schüssel (m.) und Verteidigungsminister Herbert Scheibner (r.) mit dem Hubschrauberpiloten (l.) vor dem „Black Hawk“, auf dem HeldenplatzAPA/Barbara Gindl

„Der Jugoslawienkrieg zeigte: Damals hätte uns niemand geholfen“

Andererseits erklären viele heimische Politiker, die Neutralität würde Österreich schützen?

Was man leicht vergisst: Als der Jugoslawienkrieg an unsere Grenzen kam, hätte uns im Ernstfall niemand geholfen. Genauso wenig hätte uns die Neutralität im Kalten Krieg geschützt. Heute kennen wir die Aufmarschpläne der NATO und des Warschauer Paktes. Der Warschauer Pakt wäre bis an die Enns vorgerückt und die NATO hätte sich dann in Österreich verteidigt – aber nicht Österreich, weil es kein NATO-Mitglied war. All das muss man offen diskutieren.

Zur Neutralität: 1998 hat es eine Verfassungsänderung gegeben, um die Teilnahme Österreichs an der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU zu ermöglichen. Seither sind laut Verfassung auch Kampfeinsätze zur Friedenssicherung möglich. Mit dieser Verfassungsänderung verletzen wir die völkerrechtlichen Vorleistungspflicht eines neutralen Staates. So steht es im Völkerrecht, nur hat man es der Bevölkerung nicht gesagt. Neutral kann sich jeder nennen. Jeder kann in einem Konflikt neutral sein, auch ein NATO-Staat, aber mit dem völkerrechtlichen Status eines dauernd neutralen Staates hat das nichts mehr zu tun. Deshalb halte ich das für eine Scheindebatte.

Festakt im September 2002 anlässlich der Kooperation zwischen der AUA und dem Landesverteidigungsministerium bei der Ausbildung der Eurofighter Piloten: AUA-Vorstandsdirektor Vagn Sorensen (l.) und Verteidigungsminister Herbert Scheibner (r.)APA/HERBERT PFARRHOER

„Österreich ist bündnisfrei, nicht neutral“

Wir sind also höchstens bündnisfrei?

Das hat man damals auch gesagt, das war in den späten 1990er Jahren Allgemeingut: Wir sind bündnisfrei, wie die Schweden. Aber ich habe immer gesagt: So wichtige Entscheidungen wie einen NATO-Beitritt muss man der Bevölkerung in einer Volksabstimmung vorlegen. Dazu muss man die Menschen natürlich informieren, auch über die Alternativen.

„Die Schweizer denken über ihre Sicherheit nach – ohne Ideologie“

Wie beurteilen Sie den Schweizer Weg?

Die Schweiz ist in einer anderen Situation: Sie ist nicht Mitglied der EU und hat lange gebraucht, um der UNO beizutreten. Die Schweiz ist sehr flexibel. Sie macht im Prinzip etwas sehr Vernünftiges: Sie diskutiert ihre Sicherheit ohne ideologische Scheuklappen. Aber man kann nicht einfach das System eines anderen Landes kopieren – das gilt auch für die direkte Demokratie, die in der Schweiz eine sehr lange Tradition hat. Diese Tradition wie auch das jahrzehntelange Bewusstsein für die eigene Sicherheit sorgen zu müssen, fehlt bei uns.

Scheibner besuchte 2002 die österreichischen Truppen in Islamabed (Pakistan).APA/BUNDESHEER / HARTL

Ein kleines Land kann die gegenwärtigen Bedrohungen kaum alleine bewältigen

Wäre ein NATO-Beitritt aus Ihrer Sicht das Beste für Österreich?

Wir müssen die sicherheitspolitische Debatte entideologisieren, ohne Scheuklappen, nach dem Prinzip: Was nützt den österreichischen Sicherheitsinteressen angesichts der Bedrohungslage am meisten? Aus meiner Sicht sollten wir eher in Richtung einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur gehen, da die gegenwärtigen Bedrohungen kaum von einem kleinen Land alleine bewältigt werden können. Man soll auch die europäische Komponente der Sicherheitspolitik stärken, aber auf absehbare Zeit wird wohl nur die NATO Sicherheitsgarantien für ihre Mitglieder geben können.