Scheitert der Westen im Ukraine-Krieg? Zurzeit häufen sich die Anzeichen
Militäranalysten in Kiew und Washington befürchten einen Durchbruch der Russen bis zum Sommer. Sie fordern energisch mehr Munitionslieferungen an die Ukraine, denn die Zeit drängt. Doch der Westen könnte den Krieg auch verloren geben. Dafür sieht der deutsche Journalist Gabor Steingart immer mehr Indizien.
Die Munitions- und Personalengpässe treiben ukrainischen Beamten die Sorgenfalten ins Gesicht. Sie befürchten, „dass Russland bis zum Sommer die Verteidigungsanlagen durchbricht“, berichtet Bloomberg. „Interne Einschätzungen der Lage auf dem Schlachtfeld in Kiew werden immer düsterer“. Westliche Verbündete sehen das ähnlich. Der Pessimismus wächst.
Michael Kofman, ein Spezialist für Russland und die Ukraine bei Carnegie Endowment for International Peace, warnt: „Die Ukraine könnte noch in diesem Jahr beginnen, den Krieg zu verlieren.“ Seine Kollegin Dara Massicot, die ebenfalls für den Thinktank arbeitet, pflichtet ihm bei: „Der Ukraine läuft die Zeit davon“, warnt sie in „Foreign Affairs“.
Ohne mehr Hilfe werden ukrainische Einheiten „ausgehöhlt“
Die ehemalige Senior Analystin für russische militärische Fähigkeiten im Verteidigungsministerium hält fest: „Der russische Vorsprung bei den Arbeitskräften, dem Material und der Rüstungsproduktion ist im vergangenen Jahr gewachsen“, während „die Vorräte an wichtiger Munition für die ukrainischen Fronteinheiten zur Neige gehen“. Überdies litten einige Einheiten unter „erheblichem Personalmangel.“ Die Ursache dafür seien Entscheidungen im Herbst 2022, als „Russland seine Kriegswirtschaft mobilisierte; dies tat der Westen nicht, und die Ukraine konnte es nicht.“ Russland beschaffte sich Artilleriegranaten und Drohnen in gewaltiger Anzahl. „Der Westen konnte da nicht mithalten“.
Dara Massicot will aufrütteln. Sie verweist auf Schwächen der Russen, die von der Ukraine ausgenützt werden könnten. Nur müsste das Land halt zu diesem Zweck in der Lage sein, „eine aktive Verteidigung aufzubauen und seine eigene Kampfkraft zu regenerieren“. Es brauche daher eine „Aufstockung der westlichen Militärhilfe und eine grundlegende Änderung der Kiewer Strategie“, andernfalls werde möglicherweise schon in diesem Sommer ein „Wendepunkt“ erreicht werden. „Die ukrainischen Einheiten werden wahrscheinlich ausgehöhlt, so dass ein Durchbruch der Russen durchaus möglich ist.“
Promi-Journalist: Westen könnte Krieg verloren geben
Pessimistischer ist der deutsche Journalist Gabor Steingart. Er spricht in „The Pioneer“ bereits offen von einem „Scheitern des Westens“. An einen Umschwung im Westen scheint er nicht zu glauben. Viel spreche dafür, „dass der Westen den Krieg verloren gibt und in Kürze versuchen wird, mit Russlands Herrscher einen Deal zu schließen.“
Steingart nennt „sechs Indizien“ dafür, „dass Putin der Aufsteiger des Jahres 2024 und der einst für seinen Widerstandsgeist gefeierte Selenskyj der Verlierer des Jahres wird“.
1) Die Ukraine ist weitgehend nicht mehr souverän
Erstens sei die Ukraine mittlerweile ein „erschöpftes Land“, das „weite Teile seiner Souveränität verloren“ hat. Kiews Kriegsführung sei „weitgehend abhängig von ausländischer Hilfe“, die bisher rund 252 Milliarden Euro gekostet hat. Die Bevölkerung ist um gut zehn Millionen Menschen geschrumpft: „18 Prozent des ukrainischen Territoriums hat sich die russische Armee einverleibt. 3,7 Millionen Menschen mussten ihre angestammte Heimat innerhalb des Landes verlassen. 6,4 Millionen sind außer Landes geflohen“.
2) Die Sanktionen funktionieren nicht
Zweitens seien die westlichen Sanktionen und der Versuch, Russland zu isolieren, gescheitert. „Die weltgrößte Rohstoffmacht kann man nur schwerlich in die Knie zwingen.“ Moskau hat die Lieferketten geändert bzw. ausgetauscht und auf Kriegswirtschaft umgeschaltet. China, Indien und die Türkei sind die neuen wichtigen Handelspartner. Mit anderen Worten: Die nicht-westliche Welt hat nicht mitgemacht, sie „besitzt ein Interesse daran, dass wieder ein Macht-Duopol entsteht.“
3) Stimmungsumschwung in den USA
Drittens habe in den USA ein „Richtungswechsel“ stattgefunden, auch bei den Demokraten: Die Vereinigten Staaten haben „die Lust an der Finanzierung überseeischer Kriege verloren“. Das zeigen auch Umfragen: Die meisten Amerikaner wollen Verhandlungen, „um den Krieg in der Ukraine zu beenden“.
4) „Olaf Scholz hat den Ukraine-Krieg innerlich abgehakt“
Viertens wird Deutschland nicht „all in“ gehen. Das wünschen sich zwar die Grünen und Teile der CDU, doch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat sich festgelegt: Er will sein Land nicht noch weiter in diesen Krieg hineinziehen und es so einem höheren Risiko aussetzen. Man sieht: Deutschland kann es nicht allen Recht machen, es muss auch seine eigenen Interessen definieren.
Bisher hat Berlin nach Washington am meisten Unterstützungsleistungen an die Ukraine geleistet. Doch die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern kommt für Scholz nicht in Frage. Seine diesbezügliche Klarstellung „und Quellen, die in direktem Kontakt mit dem Bundeskanzler stehen, machen deutlich, dass Olaf Scholz den Ukraine-Krieg innerlich abgehakt hat“, berichtet Steingart. „Er will das Risiko der Bundesrepublik auf keinen Fall weiter erhöhen. … Nichts liegt ihm ferner, als die Bundeswehr in Marsch zu setzen.“ Hier weiß der deutsche Kanzler auch die Mehrheit der Deutschen hinter sich.“
5) Die Konservativen sind uneins
Überdies sind fünftens die Konservativen sind gespalten, und der moderate Flügel erhält nun Rückendeckung vom Papst. Franziskus empfiehlt Kiew einen geordneten Rückzug – der eXXpress berichtete: „Wenn man sieht, dass man besiegt ist, dass es nicht gut läuft, muss man den Mut haben, zu verhandeln.“
Ex-CDU-Chef Armin Laschet trat kürzlich als Gegenspieler seines Nachfolgers Friedrich Merz auf, und unterstützte das Nein von Scholz zu Taurus-Lieferungen: „Die grundsätzliche Position des Bundeskanzlers, mit Bedacht und Besonnenheit zu handeln, um nicht Kriegspartei zu werden, finde ich richtig.“
6) Wirtschaft will die Beziehung zu Russland normalisieren
Sechstens – und damit „last, but not least“ – sind da die Wünsche der Wirtschaft: Sie hofft auf eine Wiederherstellung des Handels zu Russland. Ökonomische Interessen sind halt auch wichtig. Nicht zuletzt mit dem Slogan „It’s the economy, stupid!“ gewann Bill Clinton die US-Wahlen im Jahr 1992.
Gabor Steingart unterstreicht: „Die Wirtschaft würde gern die Beziehung zu Russland wieder normalisieren und erwartet das große Geschäft beim Wiederaufbau der Ukraine.“ Eine Billion Dollar könnten fließen. „Die Investoren erwarten den größten Auftragsbonus seit mindestens dem Zweiten Weltkrieg“, kommentiert Bloomberg. Selenskyj tauschte sich in Davos bereits mit Jamie Dimon, CEO von JPMorgan Chase, aus.
Fazit: Putin – der Sieger?
Grund zur Freude habe daher Putin: Er könne „zufrieden sein. Er gewann neue Bündnispartner, neue Rohstoffabnehmer und bekommt zusätzliches Territorium. … Sein wichtigster Verbündeter: Ein unentschlossener Westen, dessen Rhetorik mit den Realitäten nie Schritt hielt.“
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