eXXpress-Telefon-Interview: "Staatlich kontrollierte Banden zetteln die Unruhen in Kasachstan an"
Was ist in Kasachstan passiert? Der eXXpress sprach mit der kasachischen Menschenrechtsaktivistin Aigul Pavel über die Proteste gegen die Regierung. Pavel hat mittlerweile das Land verlassen und hält sich nun in Rumänien auf.
Der kasachische Präsident Tokajew richtete am Freitag eine klare Botschaft an die Bürger: “Es wird keine Verhandlungen mit Terroristen geben”, und es werden nun drastische Maßnahmen gegen alle Demonstranten ergriffen. Wie beurteilen Sie die jüngsten Vorfälle?
Präsident Tokajew will jede Protestbewegung unterdrücken. In Wirklichkeit steckt aber der ehemalige Präsident Nursultan Nasarbajew hinter seinen Aktionen. Das ist jedem klar. Deshalb skandierten die Menschen bei diesen Protesten “Geh weg, alter Mann” und bezogen sich damit auf den Abgang von Nasarbajew. Wir haben vor allem junge Menschen auf der Straße gesehen. Die Forderung hat sich nicht geändert: Das autoritäre Tokajew/Nasarbajew-Regime muss weg. Diejenigen, die friedlich für eine gerechte Zukunft auf die Straße gegangen sind, werden nun von Tokajew als angebliche Terroristen diskreditiert.
Putin hat Truppen nach Kasachstan geschickt, um Zivilisten zu töten
Die Truppen des Militärbündnisses OVKS sind bereits in Kasachstan eingetroffen.
Putin soll sofort aufhören, sich in die Angelegenheiten des souveränen Staates Kasachstan einzumischen. Die OVKS-Truppen müssen sofort abgezogen werden. Es ist offensichtlich, dass Putin dieses Bündnis kontrolliert. Und er war es, der die OVKS-Truppen nach Kasachstan geschickt hat, um Zivilisten zu töten.
OVKS steht für Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit. Hierbei handelt es sich um ein von Russland geführtes internationales Militärbündnis mit einem gemeinsamen Hauptquartier in Moskau. Das Bündnis verfügt über schnelle Eingreiftruppen. Die Mitgliedstaaten sind: Armenien, Weißrussland, Kasachstan, Kirgisistan, Russland und Tadschikistan.
Die Regierung ist zurückgetreten, Nasarbajew wurde von seinen Aufgaben als Vorsitzender des Sicherheitsrates entbunden. Ist dies nicht ein Erfolg für die Demonstranten?
Das ist die oberflächliche Sicht von außen. Der ehemalige Präsident bleibt auf Lebenszeit Vorsitzender des Sicherheitsrates. Nach der geltenden Verfassung kann ihn kein Präsident absetzen, da das Amt des Sicherheitsratsvorsitzenden über dem Status des Präsidenten steht.
In Almaty zündeten Demonstranten Autos an, töteten Polizisten und enthaupteten Zivilisten. Laut Präsident Tokajew gibt es allein in der ehemaligen Wirtschaftsmetropole Almaty 20.000 Terroristen, die es nun zu bekämpfen gilt. Ein Teil von ihnen sollen der kasachischen Sprache nicht mächtig sein.
Das ist reine Regierungspropaganda. Von der Regierung kontrollierte kriminelle Gruppen und Provokateure plündern, brennen und zerstören. Die Protestwelle begann am 2. Jänner, als mehr als 10.000 Menschen in Zhanaozen protestierten. Dies wird durch zahlreiche Videobeweise bestätigt, die von den Demonstranten selbst stammen. Doch aus Zhanaozen werden bis jetzt keine Unruhen gemeldet. Die Menschen hoffen, dass das Nasarbajew-Regime verschwindet. Aber jeden Tag kommen aus dem Ausland Wahhabiten (Angehörige einer streng-islamischen Richtung) auf sie zu und drohen mit Gewalt, sollten sie ihren friedlichen Protest nicht auflösen.
Zu Massenunruhen und Brandstiftung kam es vor allem in zwei Städten: Almaty und Shymkent. Dort sind die gewalttätigsten Bewegungen zu beobachten. Die Regierung hat absichtlich anarchische Zustände zugelassen.
Warum kommt es zu Ausbrüchen von Gewalt und Massenvandalismus?
Die Unruhen wurden von staatlich kontrollierten kriminellen Banden und Provokateuren angezettelt, um den Behörden einen Vorwand zu liefern, friedliche Kundgebungen brutal zu unterdrücken. So rechtfertigt die Regierung die Einführung von externen Kräften, die bereits eingetroffen sind.
Der Neffe des ehemaligen Präsidenten, Kairat Satybaldy, hat enge Verbindungen zu den Wahhabiten. Sie bringen Waffen mit, sorgen für Unruhe und demoralisieren die Demonstranten. Sie sind die wahren Marodeure und sabotieren unsere friedlichen Proteste. In verschiedenen Städten versuchten friedliche Demonstranten Provokateure fern zu halten. Sie bewahrten oft Polizisten und Soldaten vor Angriffe. Demonstranten kämpfen nicht nur gegen das bestehende Regime, sondern auch gegen die Anarchie. Anarchische Zustände spielen der Regierung in die Hände.
Telegram-Gruppen werden mit Fehlinformationen überflutet
Wer hat Einfluss auf die Protestbewegung?
Zum einen ist da die gewaltsame Einmischung der Wahhabiten in verschiedenen Regionen, insbesondere in Almaty. Die Wahhabiten wurden beschuldigt, Pogrome anzuzetteln, um alle Demonstranten zu diskreditieren. Diese Praxis hat sich bereits im Ausland bewährt und wird nun leider in Kasachstan wiederholt. Nasarbajews Neffe, Satybaldy, soll selbst Mitglied dieseer radikalen salafistischen Bewegung sein.
Zum anderen sehe ich eine zweite Gefahr, einen auch “nicht-physischen” Einfluss des Auslands, möglicherweise Russlands. Allein in Telegram-Gruppen werden Bots im großen Umfang gemeldet. Sie überfluten mit Fehlinformation Gruppen und stiften zu gewalttätigen Aktionen an. Die Regierung hat jedoch die Kommunikationskanäle im Land eingedämmt. Einheimische haben kaum die Möglichkeit das Internet zu nutzen.
Werden sich weiterhin Demonstranten versammeln?
Ja, da bin ich mir sicher. Allen friedlichen Demonstranten drohen Haftstrafen zwischen acht Jahren bis lebenslänglich. Es gibt für sie kein Zurück mehr. Obwohl Präsident Tokajew am 7. Jänner den Kampf gegen die eigene Bevölkerung eröffnet hat, hören die Demonstrationen nicht auf. Es gibt eine Heimat, und wir wollen sie nicht verlieren.
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