Top-Historiker: "Pazifismus ist schön, solange dir niemand den Kopf abschlägt"
Der weltberühmte Militärhistoriker Martin van Creveld (75) spricht im zweiten Teil seines Exklusiv-Interviews für eXXpress über die Bedrohung Russlands für Europa, Atomwaffen, Europas ungenügende Militärverteidigung und Putins Weltanschauung, die auf Stalin zurückgeht. (Hier geht es zu Teil 1 des Interviews.)
Falls Putin Kiew und die gesamte Ukraine einnimmt, könnte er eine Marionettenregierung einsetzen und das Land wieder verlassen. Ein vielversprechender Weg, um einen Guerillakrieg zu vermeiden?
Ich bezweifle erstens, dass eine solche Regierung effektiv sein könnte, und zweitens, dass seine Regierung einen solchen Abgang überleben könnte. Zudem hat er ja wiederholt gesagt, dass er die Macht in seinem Land wieder aufbauen will und enorme Investitionen hinein gesteckt. Wenn nicht ein Wunder geschieht, dürften ein längerer Guerillakrieg und Aufstände unvermeidlich sein.
Baltische Staaten in Gefahr?
Sollte Russland die Ukraine erobern: Wäre das eine gute Ausgangsbasis für weitere Kriege, etwa gegen Polen oder die baltischen Staaten?
Geographisch gesehen, ja. Vor allem, wenn Putin, wie es derzeit der Fall ist, Weißrussland auf seiner Seite hat. Aber es ist nicht nur eine Frage der Geographie. Das Problem, vor dem die NATO steht, ist vielmehr, wie sie den Kreml davon überzeugen kann, dass sie entschlossen ist, Osteuropa mit allen möglichen Mitteln zu verteidigen.
Jene Nachbarstaaten Russlands, die der NATO angehören, sind bisher nicht von Russland angegriffen worden. Der Beitritt zur NATO scheint sich für sie gelohnt zu haben.
Bis jetzt, ja. Was die Zukunft angeht, wer weiß?
Die Ukraine hat 1994 das Budapester Memorandum unterzeichnet und auf Atomwaffen verzichtet. Im Rückblick ein Fehler?
Nein. Die entsprechenden Kontrollmechanismen befanden sich in Moskau, sodass die Waffen für die Ukraine ohnehin nutzlos gewesen wären. Der Aufbau einer neuen, unabhängigen nuklearen Abschreckung wäre wie das sprichwörtliche rote Tuch vor der Nase des Stiers gewesen.
Putin hat seine Weltanschauung von Stalin übernommen
Ausgehend von Putins Worten und Taten: Was war sein Ziel bei Kriegseintritt? Weill er die Schutzmacht aller Slawen werden und die Grundsätze der internationalen Politik neu definieren?
Er hat seine Weltanschauung von Stalin übernommen, der sie wiederum von einigen russischen Nationalisten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts übernommen hat. Russland war immer rückständig und wurde vom Ausland auch so gesehen (zuletzt mit Blick auf den von Russland entwickelten Impfstoff gegen Corona).
Weil es rückständig war, wurde es immer wieder besiegt: erst von den Wikingern, dann von den Mongolen, dann von den Türken, dann von den Polen, dann von den Schweden, dann von den Franzosen, dann von den Anglo-Franzosen, dann von den Deutschen (zweimal in einem einzigen Jahrhundert). Jeder Eroberer kam und tat, was Eroberer tun: töten, plündern und vergewaltigen. Der letzte Schlag erfolgte 1990, als amerikanische Machenschaften – unter dem Deckmantel der “Globalisierung” – den Untergang der Sowjetunion herbeiführten und alles zunichte machten, was sie von 1941 bis 1945 zu einem wirklich schrecklichen Preis erreicht hatten.
Die nukleare Bedrohung erfordert eine "sehr ausgeklügelte Diplomatie"
Putin drohte bereits mehr oder weniger direkt mit dem Einsatz von Atomwaffen. Sollten wir die Drohung ernst nehmen? Sollten wir Angst haben?
Furcht? Nein. Angst ist immer ein schlechter Ratgeber. Aber ernsthaft, ja. Die Situation erfordert eine sehr vorsichtige und sehr ausgeklügelte Diplomatie, wie sie zum Beispiel in der Berlin-Krise von 1958 bis 1961 und in der Kuba-Krise 1962 angewandt wurde.
Sie haben in der Vergangenheit auf die abschreckende und damit friedensstiftende Funktion von Atomwaffen hingewiesen. NATO gegen Russland – das klingt angesichts der Atomwaffen eher nach einem Weltuntergangsszenario.
Wissen Sie, was das Schöne an Atomwaffen ist? Wenn sie nicht eingesetzt werden, gibt es keinen Grund zur Sorge. Wenn sie eingesetzt werden, gibt es auch keinen Grund zur Sorge. Das gilt für Putin genauso wie für jeden anderen auch.
"Militärisch steht Europa da mit heruntergelassenen Hosen"
Europa scheint nach dem Kalten Krieg an einen Frieden ohne Waffen geglaubt zu haben. Wie steht es nun militärisch gegenüber Russland da?
Mit heruntergelassenen Hosen. Mit Bevölkerungen, die den Komfort über alles stellen und nicht kämpfen wollen. Nie wieder Krieg! Und mit Streitkräften, die seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, stark vernachlässigt wurden. Ganz zu schweigen von Feministinnen, die das Militär von Kampfmaschinen in Kindergärten verwandeln wollten.
Es ist, wie Clausewitz sagt: Pazifismus ist schön und gut. Bis jemand kommt, und das wird er, und dir den Kopf abschlägt.
Sind Wirtschaftssanktionen sinnvoll? Was sollte Europa jetzt sofort tun?
Im Prinzip sind sie sinnvoll. Aber versprechen Sie sich nicht zu viel. Die Russen können auf fast alles verzichten, außer auf Wodka. Aber selbst dessen Verbrauch ist in den letzten Jahren zurückgegangen.
Zunächst kann die NATO nur zusätzliche Truppen in baltische Staaten verlegen
Sollte Europa wieder in einen Ansatz der “erweiterten Abschreckung” investieren? Was sollte es nun tun?
Für mich scheint “erweiterte Abschreckung” zu bedeuten, dass eine nicht erweiterte Abschreckung, wie sie derzeit existiert, wertlos ist. Meinen Sie nicht auch?
Der unmittelbarste Schritt, den die NATO unternehmen kann, ist die Verlegung zusätzlicher Truppen in die baltischen Staaten, nach Polen und Rumänien. Danach werden wir weitersehen.
Russland hat wenig junge Männer. Ist das ein Problem, weil sich Putin dann den Zorn der Witwen und Mütter zuzieht?
Mütter können in der Tat laut werden, wie es hier in Israel während des ersten Libanonkriegs geschah. Aber übersehen Sie nicht die Tatsache, dass die Geburtenrate in Deutschland noch niedriger ist als in Russland?
Untergehende Imperien gelten als besonders unberechenbar. Stellen Russlands innere Schwächen eine größere Bedrohung für die Welt dar als seine Stärken?
Das stimmt genau. In gewisser Weise ist das auch das, was Putin selbst sagt. Ihr im Westen, sagt er, habt unsere Schwäche 30 Jahre lang ausgenutzt. Aber genug ist genug.
Martin van Creveld wurde 1946 in Rotterdam geboren und wuchs in Israel und England auf. Er ist emeritierter Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem und einer der weltweit einflussreichsten und bekanntesten Militärhistoriker.
Van Creveld hat Verteidigungseinrichtungen zahlreicher Regierungen einschließlich jener der USA, Kanadas und Schwedens beraten und an praktisch jedem Institut, das sich mit strategischen militärischen Studien beschäftigt, Vorträge gehalten und gelehrt. Er ist häufiger Gast bei CNN, BCC und anderen internationalen Medien und hat darüber hinaus Artikel für Hunderte von Zeitschriften verfasst, einschließlich “Newsweek” und “International Herald Tribune”.
Seine vielen Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.
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