Trotz Prognosen keine Masseninfektion nach vollen Fußballstadien – das Spiel mit den Inzidenzen
Anfang Juli spielten die besten Fußballmannschaften Europas im Zuge der EM vor teils voll besetzten Zuschauerrängen gegeneinander. Sowohl in Ungarn, Rumänien, aber auch in England waren die Stadien zwischen 50 und 100 Prozent ausgelastet. Medien und Politiker warnten vor „Leichtsinn“, SPD-Politiker Karl Lauterbach tobte, die UEFA sei zukünftig für „den Tod vieler Menschen verantwortlich“.
Die Corona-Todeszahlen und ein weiterer Rückgang der Hospitalisierungen widersprechen Lauterbachs dunkeln Prognosen deutlich. Doch was können Inzidenzen bei einer hohen Durchimpfungsrate eigentlich noch aussagen?
Das Spiel hat gestern nochmal gezeigt wie eng die Fans stehen, wie oft sie sich umarmen und anschreien. Es haben sich sicherlich Hunderte infiziert und diese infizieren jetzt wiederum Tausende. Die UEFA ist für den Tod von vielen Menschen verantwortlich. https://t.co/ruL9FBqPYF
— Karl Lauterbach (@Karl_Lauterbach) June 30, 2021
Am 29.Juni spielte die deutsche Nationalelf gegen den EURO-Favoriten England. Das Wembleystadion in London war zu 50 Prozent ausgelastet, knapp 45.000 Menschen befeuerten die Fußballer live. Im Halbfinale gegen Dänemark waren 65.000 Zuseher vor Ort, das entspricht einer Auslastung von fast 75 Prozent.
Mehrere Mitglieder der deutschen Regierung mahnten Boris Johnson, vom Plan der vollen Stadien wieder abzuweichen und eine deutlich geringere Anzahl an Personen live am Fußballgeschehen teilhaben zu lassen. Die Reaktion Großbritanniens: Nur Einheimische durften ohne Restriktionen ins Stadion, ausländische Fans mussten in Quarantäne oder durften nur unter strengsten Auflagen einreisen.
Deutschlandfunk titelt: "Freedom Day in England- Gefährliche Freiheit ohne Lockdown?"
Öffentlich-rechtliche Medien aus dem deutschsprachigen Bereich warnten „ Großbritannien risikiert Leben“, „Wie gefährlich ist das britische Experiment?“ Dies titelte das Medium N-TV, als in der Nacht auf den 19. Juli alle Restriktionen in Großbritannien aufgehoben wurden. Seit 19. Juli, dem sogenannten “Freedom Day”, bestehen weder die Pflicht eines Gesundheitsnachweises, Maskenpflicht oder jedwede Art der Zugangsbeschränkung. Das deutsche Medium Deutschlandfunk titelte sogar : “Freedom Day in England – Gefährliche Freiheit ohne Lockdown?”
Großbritanniens Aufhebung der Corona-Restriktionen ist vielen EU-Ländern ein Dorn im Auge
Die ansteckendere, aber als für den Großteil der Bevölkerung als ungefährlich eingestufte Delta-Variante ist mittlerweile die vorherrschende Variante in Großbritannien. Zwar erschreckt eine Inzidenz von 422.8 vorerst, sieht man sich den Prozentsatz der Todesfälle an, scheint die Lage jedoch keineswegs dramatisch zu sein. Und das trotz einer mittelmäßigen Durchimpfungsrate von knapp 55 Prozent.
Beispiel Gibraltar: Die Wahrheit ist eine Tochter der (Hospitalisierungs-)Zahlen
Dass auch hohe Impfquoten nicht vor einem Anstieg der Inzidenzen bewahren, ist am Beispiel des britischen Überseegebiets Gibraltar zu beobachten. Hier liegt die Inzidenz bei 623 – fragt man die Gesundheitsbehörden vor Ort, heißt es jedoch „kein Grund zur Panik“. Interessant ist: Die Zahl der Covid-Toten ist trotz enormer Inzidenz nicht gestiegen. Auch die Zahl der schweren Verläufe ist verschwindend gering, nur 3,5 Prozent der aktuell Infizierten befinden sich im Krankenhaus, eine einzige Person auf der Intensivstation. In Gibraltar liegt die Durchimpfungsrate bei 100 Prozent, der Großteil der Infektionen laufen symptomlos oder sehr mild ab. Außerdem lässt sich am britischen Überseegebiet erkennen, was renommierte Experten schon seit Monaten vermuten – die Impfung schützt nicht vor einer Ansteckung, bewahrt aber einen Großteil der Geimpften vor einem schweren Verlauf. Die meisten Personen, die sich mit der Delta-Variante infiziert haben, berichten von keinen oder nur leichten Symptomen. Schüttelfrost, fehlendes Hungergefühl, Kopfschmerzen und Muskelkater sind für den Großteil der Bevölkerung durchaus innerhalb weniger Tage zu Hause kurierbar und stellen keine Bedrohung für die nationale Gesundheit dar.
Die Aussagekraft der Inzidenzen schwindet
Auch um das EU-Mitgliedsland Ungarn verstummten öffentlich-rechtliche Medien in letzter Zeit. Trotz der düsteren Zukunftsszenarien rund um steigende Inzidenzen und tausender Toten war die Puskas Arena beim Match Frankreich gegen Portugal zu über 80 Prozent ausgelastet. Deutsche Medien berichteten, dies sei nur aufgrund des Hygienekonzeptes möglich gewesen. Die Realität war allerdings, dass die Hygienekonzepte nur im offiziellen Bereich, der unter Beobachtung der UEFA stand, eingehalten wurden. Nach dem Match gab es in ganz Budapest Menschenansammlungen, Pubs und Lokale waren zum Bersten voll. In Ungarn besteht weder eine Test-, noch eine Impfpflicht, um Zugang zur Gastronomie oder Tourismus zu bekommen – es reicht ein freundliches „ Jó nap“ (dt.: Grüß Gott).
Staaten können sich Inzidenzen nach Belieben "zusammenbasteln"
Das Resultat der laisse-faire Politik und dem Erhalt bzw der Wiederherstellung der Grund- und Freiheitsrechte schlug sich zwei Wochen später in der Inzidenz nieder: Diese lag bei 3,6. Kritiker verwiesen auch darauf, dass die niedrige Inzidenz an den weniger stattfindenden Testungen und der fehlenden 3-G-Reglementierungen läge. Diese Kritik verdeutlicht das Problem der Inzidenz-Aussagekraft: Die Staaten können sich ihre Inzidenz durch mehr oder weniger Testungen „selbst basteln“.
Hohe Inzidenzen werden gerne dramatisiert
Eine hohe Inzidenz, wie in Gibraltar, schreckt jedoch ab und lässt sich medientechnisch leicht dramatisieren. Auch führen die hohen Inzidenzzahlen zu internationalen Reisesperren und Konsequenzen anderer Staaten. Ist also die Orientierung am Inzidenzwert noch zielführend zur Bekämpfung des Coronavirus, wenn Risikopatienten längst geimpft und Verläufe fast ausschließlich mild von statten gehen?
Konzentration auf Hospitalisieren und Todesfälle stößt auf taube Ohren
Die Forderung einiger renommierter Experten, sich bei Corona-Einschränkungen und Maskenpflicht-Bestimmungen an Hospitalisierungen und schweren Verläufen zu orientieren, stößt in Deutschland, aber auch in Österreich auf taube Ohren. Zwischen positiv getestet, aber symptomlosen, und tatsächlich erkrankten Personen wird weiterhin nicht unterschieden. In Österreich, das zeitweise Test-Rekordhalter war, liegt die Inzidenz bei 28,2. Im gesamten Land befinden sich nur 70 Personen wegen Corona im Krankenhaus, schon seit Anfang Juli sinkt diese Zahl immer weiter. Nur noch 0,1 Prozent der Test haben ein positives Ergebnis. Um die Wirkung der Impfung auf Corona-Infektionen besser verstehen zu können, wäre eine Erfassung des Anteils der Geimpften Personen bei den Neuinfizierten durchaus hilfreich. Solche Erhebungen gibt es bisher allerdings nicht.
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