"Vollständige Säuberung": Russlands Nachrichtenagentur erläutert das Ziel der Invasion
Putin strebt mit der Invasion in die Ukraine eine “Entnazifizierung” des Landes an. Was das bedeutet, beschreibt ein eben erschienener Artikel der russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti: Es geht um die “Vernichtung” aller “Nazis” – sprich: der meisten Ukrainer – und eine jahrzehntelange Umerziehung.
Die Ukraine hat eine Nazi-Regierung, die meisten Ukrainer sind Nazis. Russland hat die Aufgabe, die Ukraine zu entnazifizieren und damit zu “de-ukrainisieren”, denn eine unabhängige Ukraine ist zwangsläufig nationalsozialistisch. Dies erklärt unverhohlen ein langer Kommentar in der russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti.
Und: Alle Nazis müssen nun “vernichtet” oder strengstens bestraft werden, eine ideologische Umerziehung über mehrere Generationen ist nötig, der Name Ukraine darf nicht mehr verwendet werden. Die Entnazifizierung ist auch eine Enteuropäisiserung, denn die Nazi-Ukraine ist ein EU-Projekt.
Das alles mag für sämtliche Ohren ungeheuerlich klingen, und das ist es auch. Doch das verkündet nun Russlands staatliche Nachrichtenagentur mit Sitz in Moskau, gewissermaßen das offizielle Organ des Kremls. Am 3. April ist dieser Artikel des RIA-Kolumnisten Timofey Sergeytsev unter dem Titel “Was Russland mit der Ukraine tun sollte” erschienen. Er beschreibt die “notwendige Entnazifizierung” der Ukraine. RIA Novosti bezeichnet den Autor als “Philosophen”.
Russlands Einmarsch soll die Ukraine ausradieren
So abstoßend sein Text ist, so “aussagekräftig” ist er, immerhin arbeitet Sergeytsev für Russia Today und ist darüber hinaus Forschungsberater an der Fakultät für Globale Prozesse der Staatlichen Universität Moskau. Dieser Mann in Russlands staatlichen Diensten nennt die Ziele und Maßnahmen von Putins Invasion beim Namen, und das sind die Ausradierung der Ukraine samt ihrer Kultur, ihrer politischen Führung, ihrer Anhänger – alles getarnt als “Entnazifizierung”.
Auszüge aus seinem Text geben Einblick in die Gedankenwelt Moskaus und in dessen Pläne in der Ukraine.
Regierung und Volks sind beide schlecht
“Bereits im April vergangenen Jahres schrieben wir über die Unvermeidbarkeit der Entnazifizierung der Ukraine”, beginnt der Text. “Wir brauchen keine nazistische Ukraine, einen Feind Russlands und ein Instrument des Westens, um Russland zu zerstören.”
Nun gehe es um praktische Fragen, also wie die “Entnazifizierung” vonstatten gehen soll.
“Die Entnazifizierung ist notwendig, wenn ein bedeutender Teil des Volkes – höchstwahrscheinlich seine Mehrheit – vom Naziregime beherrscht und in seine Politik hineingezogen wird. Das heißt, wenn die Hypothese ‘das Volk ist gut – die Regierung ist schlecht’ nicht funktioniert”, heißt es weiter. “Die Anerkennung dieser Tatsache ist die Grundlage der Entnazifizierungspolitik … . Die Ukraine befindet sich genau in dieser Situation.”
Ein erheblicher Teil des Volks ist "schuldig"
“Nazis, die zu den Waffen gegriffen haben, müssen auf dem Schlachtfeld so weit wie möglich vernichtet werden.” Sie seien “schuldig des Völkermords am russischen Volk”. Solche “Kriegsverbrecher und aktive Nazis müssen exemplarisch bestraft werden. Es muss eine vollständige Säuberung durchgeführt werden. Alle Organisationen, die sich mit der Ausübung des Nationalsozialismus verbunden haben, müssen beseitigt und verboten werden.”
Neben den ukrainischen Führungskräften sei “auch ein erheblicher Teil der Masse des Volkes – die passiven Nazis, die Kollaborateure des Nazismus – schuldig. Sie unterstützten und verwöhnten die Nazi-Regierung.” Dieser Teil der Bevölkerung müsse “die unvermeidlichen Lasten eines gerechten Krieges gegen das Nazisystem” tragen – als “Teil der gerechten Strafe”.
Unterdrückung und Zensur sind notwendig
Doch das genügt nicht: “Die weitere Entnazifizierung dieser Masse der Bevölkerung besteht in der Umerziehung, die durch ideologische Unterdrückung (Verdrängung) nationalsozialistischer Einstellungen und strenge Zensur erreicht wird: nicht nur im politischen Bereich, sondern notwendigerweise auch im Bereich der Kultur und der Bildung.”
Die Entnazifizierung müsse “vom Sieger durchgeführt werden” – also Russland. Daher könne “das entnazifizierte Land in dieser Hinsicht nicht souverän sein”. Die Entnazifizierung dürfe “auf gar keinen Fall kürzer sein als eine Generation”. Schließlich habe die “Nazifizierung der Ukraine” spätestens 1989 begonnen.
Ukrainischer Nationalsozialismus schlimmer als jener Hitlers
Heute tarne sich der Nazismus “als Bestreben nach ‘Unabhängigkeit’ und nach einem ‘europäischen’ (westlichen, pro-amerikanischen) Weg der ‘Entwicklung'”. Er sei jedoch keine “Light-Version” des deutschen Nationalsozialismus und müsse daher kompromisslos bekämpft werden.
Mehr noch: “Der ‘Ukronazismus’ stellt nicht eine geringere, sondern eine größere Bedrohung für den Frieden und für Russland dar als Hitlers Version des deutschen Nationalsozialismus.”
Und: “Der Name ‘Ukraine’ kann offensichtlich nicht als Bezeichnung für ein vollständig entnazifiziertes staatliches Gebilde beibehalten werden.” Die künftige Ukraine müsse ihre “Schuld gegenüber Russland” wieder gutmachen, der Prozess des Wiederaufbaus könne “nur in Abhängigkeit von Russland” erfolgen.
Für Neutralität nach schweizerischem oder österreichischem Modell sieht es hier auch eher schlecht aus: “Es kann keine ‘Neutralität’ im ideologischen und praktischen Sinne geben, die mit einer Entnazifizierung vereinbar wäre.” Alle Organisationen im Dienste der Entnazifizierung müssten sich “auf die direkte Macht und organisatorische Unterstützung Russlands verlassen”.
Eine ständige Militärpräsenz Russlands ist erfoderlich
Klar ist auch: “Die Entnazifizierung wird unweigerlich eine Ent-Ukrainisierung sein”, und: “Das Ukrainertum ist eine künstliche antirussische Konstruktion, die keinen eigenen zivilisatorischen Inhalt hat”. Allerdings werde selbst “die Entnazifizierung an sich nicht ausreichen”, denn: “Die Entnazifizierung der Ukraine wird auch ihre unvermeidliche Ent-Europäisierung” sein. Die Spitzenkräfte “müssen beseitigt werden, es ist unmöglich, sie umzuerziehen”.
Am Ende wird der Autor noch einmal deutlich: “Die Entnazifizierung als Ziel der speziellen Militäroperation selbst wird als militärischer Sieg über das Kiewer Regime, die Befreiung von Gebieten von bewaffneten Anhängern der Nazifizierung, die Beseitigung unversöhnlicher Nazis, die Ergreifung von Kriegsverbrechern und die Schaffung von systemischen Bedingungen für eine spätere Entnazifizierung in Friedenszeiten verstanden.” Zurückbleiben werde “eine zwangsneutrale und entmilitarisierte Ukraine”.
Moskau müsse aber wachsam bleiben: “Eine Garantie dafür, dass diese Rest-Ukraine neutral bleibt, sollte die Androhung einer sofortigen Fortsetzung der Militäroperation sein, wenn die aufgeführten Anforderungen nicht erfüllt werden. Dies dürfte wahrscheinlich eine ständige russische Militärpräsenz auf dem Territorium des Landes erfordern.”
Schließlich: Nicht nur die Nazi-Ukraine werde “ausgerottet”, sondern auch “vor allem der westliche Totalitarismus”. Russland solle sich “als letzte Instanz für den Schutz und die Bewahrung der historischen Werte (der Alten Welt) begreifen”. Künftig werde Russland eine “Führungsrolle im globalen Entkolonialisierungsprozess” einnehmen.
Fazit
Wer die Reden Wladimir Putins verfolgt, wird einige seiner Gedankengänge hier wiedererkennen. Allerdings kleidet Russlands Präsident seine Aussagen tendenziell in eine weniger martialische Sprache und wird weniger konkret. Nicht immer wird das Ausmaß an Menschenverachtung darin so deutlich wie hier.
Solche Texte lassen weitere Rückschlüsse auf Denkweise und Intentionen Putins und seiner Clique zu. In einem Land, in dem anti-westliche und anti-ukrainische Propaganda schon seit Jahren den Alltag prägt, fallen Texte wie diese kaum auf. Im Westen ist man vielleicht gerade deshalb gut beraten, sie zu lesen. Immerhin wird in dem Artikel sehr ausführlich beschrieben, was Moskau in der Ukraine so vorhat.
Kommentare