Mit Drohnenangriffen, Sabotageakten und gezielten Tötungen versucht die Ukraine derzeit, den Kriegsverlauf zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Doch der US-Sicherheitsexperte Stephen Bryen warnt: Diese Taktik bringe Aufmerksamkeit – aber keine Wende. „In jedem Fall verlagert sich der eigentliche Bodenkrieg in der Ukraine zunehmend zugunsten der Russen, die langsam die Schlinge um die ukrainischen Streitkräfte enger ziehen.“

Standbild vom Drohnenflug: Während einer Pressekonferenz in der ukrainischen Botschaft in Washington wurde dieses Video aus der Operation „Spider’s Web“ gezeigt – aufgenommen über russischem Gebiet.APA/AFP/Oliver Contreras

Stephen Bryen, geboren 1942, zählt zu den erfahrensten Experten für Sicherheitsstrategie und Militärtechnologie. Er war stellvertretender Unterstaatssekretär im US-Verteidigungsministerium unter Präsident Ronald Reagan und gründete dort die Defense Technology Security Administration (DTSA) – zuständig für Technologie-Sicherheitsrichtlinien im internationalen Rüstungstransfer. Seine Analysen erscheinen in renommierten Medien weltweit.

Die neue Strategie Kiews: Spezialangriffe statt Durchbrüche

Die Ukraine setzt zunehmend auf unkonventionelle Kriegführung: gezielte Angriffe auf russische Luftwaffenstützpunkte, Bahnlinien, Stromnetze und symbolische Ziele wie die Kertsch-Brücke. Auch Attentate gehören dazu – etwa die Tötung des Ex-Luftwaffenoffiziers Zaur Gurtsiev in Stawropol.

Diese Strategie nahm laut Bryen mit der Offensive bei Kursk im August 2024 ihren Anfang – einem verlustreichen Unternehmen mit rund 75.000 Toten oder Verwundeten auf ukrainischer Seite. „Die jüngsten Drohnenangriffe gehören zur neuen Strategie der Ukraine: Sie will die Kosten des Kriegs für Russland in die Höhe treiben – in der Hoffnung, entweder ein besseres Angebot aus Moskau zu erhalten oder, wahrscheinlicher, die USA und Europa dazu zu bewegen, aktiver in den Krieg einzugreifen“, schreibt Bryen in seiner Analyse, die zuerst auf seinem Substack-Blog Weapons and Strategy erschien.

Ein Vorteil der Ukraine: Sie wird von westlichen Geheimdiensten, Technologien und Präzisionswaffen unterstützt – und verfügt zudem über eigene Expertise im Drohnenbau sowie in Elektronik und Softwareentwicklung. Doch das reicht laut Bryen nicht aus, um den strategischen Vorteil Russlands zu kippen.

Massive Schäden nach ukrainischem Präzisionsschlag: Hochauflösende Satellitenaufnahme von Maxar zeigt drei vollständig zerstörte russische Langstreckenbomber – Ergebnis der Operation „Spiderweb“.X/NOELreports

Russlands Antwort: Zermürbung statt Überraschung

Russland setzt weiter auf klassische Kriegsführung – mit Erfolg. Die Armee versucht, ukrainische Truppen einzukesseln, Nachschublinien zu unterbrechen und die Front zu dehnen. Die Offensive in Sumy, direkt an der Grenze zu Kursk, öffnet eine mögliche neue Angriffsachse Richtung Kiew.

Von der gescheiterten ukrainischen Offensive bei Kursk habe Russland profitiert, sagt Bryen: „Seither hat Russland seine Operationen in Sumy ausgeweitet… Sumy eröffnet eine mögliche Landachse für einen Angriff auf Kiew – vorausgesetzt, Russland kann seine Position in Kursk konsolidieren und die ukrainischen Verteidigungskräfte weiter schwächen.“

Wladimir Putin bei einem Wirtschaftstreffen im Kreml im Mai 2025 – während seine Truppen in der Ukraine weiter vorrücken. Laut Bryen bleibt Moskau militärisch auf Kurs.IMAGO/ZUMA Press Wire

Diese Strategie sei bislang kaum beeinträchtigt durch Angriffe im russischen Hinterland. Sie „zielt darauf ab, die ukrainische Armee systematisch zu zermürben und – wo möglich – in Kesseln einzukreisen, um Nachschub- und Rotationswege abzuschneiden.“

Zwar hätten die ukrainischen Attacken den russischen Vormarsch verlangsamt – „aber sie stoppten ihn nicht“, warnt Bryen. „Alles deutet darauf hin: Die neue ukrainische Strategie wird auf den Kriegsverlauf höchstens einen marginalen Einfluss haben.“

Materialmangel und Frontüberdehnung

Die ukrainische Armee leidet unter Überdehnung: Die Front ist durch den russischen Vormarsch noch länger geworden, Nachschub und Rotation geraten ins Stocken. Gleichzeitig mehren sich in Washington die Stimmen, die eine Konzentration auf den Pazifikraum fordern – angesichts Chinas Aufrüstung. Eine Drosselung der US-Waffenlieferungen an Kiew gilt als wahrscheinlich. Das könnte, so Bryen, das Ende der ukrainischen Feldarmee bedeuten.

Russland setzt indes auf schweres Gerät: Während die Ukraine US-Gleitbomben vom Typ GBU-39 (113 kg) einsetzt, verwendet Russland FAB-Gleitbomben mit bis zu 3 Tonnen Sprengkraft und über 60 Kilometer Reichweite – ein erheblicher taktischer Vorteil.

Selenskyj bei einer Pressekonferenz in Kiew. Während die Ukraine auf Drohnen setzt, bleibt Russland laut US-Experte Bryen militärisch im Vorteil.APA/AFP/POOL/Tetiana DZHAFAROVA

Keine stabile Lösung, kein Friede in Sicht

Ein Hindernis für ein Kriegsende sieht Bryen in der politischen Lage der Ukraine. Die Regierung in Kiew könne keinen Gebietsverlust akzeptieren, ohne ihre eigene Legitimität zu untergraben. Ein Waffenstillstand „in der aktuellen Lage“ wäre zwar denkbar, doch Moskau zeigt derzeit keine Bereitschaft dazu.

Zudem hält Kiew weiterhin am Ziel einer Integration in EU und NATO fest – trotz fehlender Einladung. Ein Beitritt zur NATO sei nicht realistisch.

Und selbst ein Friedensvertrag wäre laut Bryen kaum das Ende der Gewalt: „Einige russische Militärblogger vertreten die Ansicht, dass auch ein möglicher ‚Friedensvertrag‘ zwischen Russland und der Ukraine nicht das Ende von Guerillaangriffen auf russisches Territorium oder russische Truppen in der Ukraine bedeuten würde. Diese Einschätzungen spiegeln den Glauben wider, dass die NATO Russland noch viele Jahre Probleme bereiten werde – es sei denn, Russland greife zu radikaleren Maßnahmen.“

Russische Übermacht bleibt

Bryens Fazit ist ernüchternd: Die Ukraine kämpfe clever und mit hohem Einsatz – aber nicht strategisch entscheidend. Die russische Überlegenheit an Material, Tiefe und Zeit bleibe ungebrochen. Ohne stärkere westliche Einmischung oder innenpolitischen Wandel in Moskau werde Kiew die Wende nicht schaffen.

Stephen Bryen gilt als führender Experte für Sicherheitsstrategie, Rüstungskontrolle, Cybersicherheit und geopolitische Technologiepolitik. Er wurde zweimal mit der höchsten zivilen Auszeichnung des US-Verteidigungsministeriums, der Distinguished Public Service Medal, geehrt. CBS-Journalist Morley Safer bezeichnete ihn als „den obersten Technologie-Wächter des Pentagon“. Er schreibt regelmäßig für Asia Times, American Thinker, Epoch Times, Newsweek, Washington Times und das Jewish Policy Center.