In den letzten Tagen konnte man allerorts lesen, dass der amerikanischen Imperialismus einen schweren Rückschlag erlitten hätte: Der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis der in linken Kreisen Rockstar Status genießt twitterte vergnügt, dass es zwar für Frauen eng werden würde, aber immerhin wurde der liberal-neokonservative Imperialismus endgültig besiegt. Und auch der von mir geschätzte Exxpress Kolumnist Bernhard Heinzelmaier schreibt vom „verbrauchten und erschöpften US-Imperialismus“ dem es nur um die ökonomische Macht gehen würde.

Man hört hier Echos des Anti-Kriegs Slogans von 2003, als Gegner des Irak Krieges in den Straßen „Kein Blut für Öl“ skandierten. Auch damals war die Vermutung populär, die USA würden im Auftrag des Kapitalismus im Irak einmarschieren. Mit über 4.000 Gefallenen gaben die US zwar Blut, aber der größte Importeur irakischen Öls ist China, welches auch der größte Investor im Energiesektor des Landes ist. Auch in Afghanistan welches über Ressourcen wie seltene Erden verfügt, hielt sich die wirtschaftliche Ausbeutung durch den angeblich imperialistischen Uncle Sam in Grenzen. Im Durchschnitt gaben die USA pro Jahr 100 Milliarden US Dollar für Afghanistan aus – was vielleicht nicht viel erscheint, aber in Österreich fast 50% der gesamten Staatsausgaben ausmachen würde – aber es erfolgte nicht viel an wirtschaftlicher Gegenleistung aus Kabul.

Mit Ausnahme von Lateinamerika ist das Argument des amerikanischen Wirtschaftsimperialismus via Bajonett schlichtweg Unsinn: Die meisten Menschen werden nicht mit einem vorgehaltenen Gewehr zum Kauf eines iPhones oder dem Erstellen eines Facebook Accounts gezwungen, und auch die jüngste Netflix Serie oder die Bestellung bei Amazon sind nicht die Folge eines militärischen Imperialismus, sondern freiwilliger Kaufentscheidungen. Aber selbst der amerikanische Kulturimperialismus ist weniger stark ausgeprägt, als man uns glauben machen möchte: Ein iPhone macht mich ebenso wenig zum Amerikaner, wie mich das Essen von Sushi zum Japaner macht. Es ist oft sogar das Gegenteil der Fall wenn man sich ansieht, wie gekonnt islamistische Netzwerke auf sozialen Medien und digitalen Plattformen agieren.

Der Wunsch nach kulturellem Relativismus übertrifft mittlerweile den Wunsch nach dem Respekt vor universellen Menschenrechten

Wie schwach dieser angebliche Kulturimperialismus im Vergleich zum historischen Imperialismus ist, zeigen die folgenden zwei Beispiele:

Die New York Times hat schon vor sechs Jahren berichtet, dass innerhalb der Afghanischen Armee der sexuelle Missbrauch minderjähriger Buben an der Tagesordnung stand. Das sogenannte Bacha Bazi (übersetzt in etwa „Spielen mit Jungs“) war der amerikanischen Führung bekannt, aber man gab den Soldaten die Anweisung nicht zu intervenieren und lokale „Gepflogenheiten“ zu tolerieren. Gleiches galt bei den Kinderehen, wie Fotos von 40 jährigen Männern und deren 11 jährigen „Bräuten“ zeigen welche von der UNICEF 2007 veröffentlicht wurden – also zu einem Zeitpunkt, an dem Afghanistan schon sechs Jahre dem gnadenlosen US-Imperialismus ausgesetzt war.

Wie erfolgreicher Kulturimperialismus aussehen könnte, demonstrierte Sir Charles Napier, der Oberbefehlshaber der britischen Indien Armee. Während seiner Amtszeit in den 1840ern war in Teilen Indiens noch die hinduistische Tradition der Witwenverbrennung, des sogenannten Sati, üblich. Napier, voll des multikulturellen Respekts vor den lokalen Bräuchen, teilte den hinduistischen Priestern folgendes mit:

„Dann sei es so. Das Verbrennen von Witwen ist euer Brauch, also bereitet den Scheiterhaufen vor. Meine Nation hat ebenfalls einen Brauch. Wenn Männer Frauen bei lebendigem Leib verbrennen, werden sie gehängt und deren Besitztümer konfisziert. Errichtet euren Scheiterhaufen während daneben meine Leute einen Galgen aufbauen und folgt eurer Tradition. Und dann folgen wir unserer.“

Indien ist heute ein besserer Ort ohne Witwenverbrennungen, ebenso wie Afghanistan ohne Kinderehen und Bacha Bazi ein besserer Ort wäre. Bevor der übliche Einwand kommt, in Europa sei die Kirche genauso schlimm – der Unterschied besteht nicht darin, ob schreckliche Dinge passieren, denn das ist überall der Fall. Der Unterschied besteht darin, ob es toleriert wird oder nicht. Die Vergewaltigung eines elf Jahre alten Mädchens durch einen viermal so alten Mann führt im Westen ins Gefängnis und in Afghanistan zur Hochzeit.

Doch wie die letzten Tage gezeigt haben, haben wir im Westen sogar die Fähigkeit verloren diesen Unterschied zu erkennen. Der Wunsch nach kulturellem Relativismus übertrifft mittlerweile den Wunsch nach dem Respekt vor universellen Menschenrechten, weshalb es auch innerhalb des Westens immer öfter zum Kniefall vor einer islamistischen Rechtslehre kommt, auch wenn diese die Rechte von Frauen mit Füßen tritt.

In einem meiner Podcasts hatte ich die Möglichkeit mit der Kanadiern Yasmine Mohammed zu sprechen, deren Buch „Entschleiert“ Pflichtlektüre für alle ist, den Islam im Westen verstehen wollen: Zwangsverheiratet mit einem (wie sich später herausstellte) hochrangigen Mitglied einer Al-Qaida Zelle war der kanadische Staat unwillig Yasmine zu unterstützen, weil man nicht kulturell unsensibel sein wollte.

Man darf gespannt sein, wie viele Regenbogenflaggen nächstes Jahr in Kabul wehen werden

Ebenso wenig wurde in den Medien über das absolute Behördenversagen in der englischen Stadt Rotherham berichtet: 16 Jahre lang wurden über 1400 Mädchen aus sozial schwachen Schichten dort von pakistanischen Gangs sexuell missbraucht, und obwohl die Behörden davon wussten wurde nichts unternommen: Man wollte nicht rassistisch erscheinen, also überließ man die Mädchen ihrem Schicksal.

Wer glaubt, dass einen das Erwähnen dieser Ereignisse bereits in die Nähe zur Islamophobie rückt, sollte sich die Biographie von Samira Bellil besorgen. Diejenigen die am meisten unter der falschen Toleranz westlicher Behörden zu leiden haben, sind nämlich vor allem Musliminnen. Es drängt sich mehr und mehr der Verdacht auf, dass es den sogenannten anti-Imperialisten wie Varoufakis nicht wirklich um die vermeintlichen Opfer des Imperialismus geht, sondern dass diese nur eine Projektionsfläche für die eigene anti-westliche Ideologie darstellen. Im Grunde sind ihm und seinen Gesinnungsgenossen die Frauen in Afghanistan und die Musliminnen in Europa komplett egal, solange sie nicht als Statistinnen für die eigene Weltsicht missbraucht werden können.

Die Islamisierung Europas ist weniger das Resultat muslimischer Einwanderung (obwohl diese auch eine Rolle spielt) als des kulturellen Masochismus, welcher glaubt mit dem Ende der westlichen Zivilisation würde ein goldenes Zeitalter ausbrechen. Ich bin mir da nicht so sicher, denn all das was den anti-Imperialisten am Herzen liegt – wie beispielsweise Rechte für ethnische oder sexuelle Minderheiten – wurde bis jetzt nur im Westen verwirklicht. Die Idee der diversen multikulturellen Welt als Endpunkt der Geschichte ist ein monokulturelles Phänomen, welches nirgends auf der Welt geteilt wird. Je weiter sich der Westen zurückzieht und vom Weltgeschehen isoliert, umso mehr werden auch diese Werte verschwinden. Vor zwei Monaten hisste die amerikanische Botschaft in Kabul die Regenbogenflagge während Gay Pride Month.   Man darf gespannt sein, wie viele Regenbogenflaggen nächstes Jahr in Kabul wehen werden, aber wahrscheinlich wird die Zahl eher überschaubar sein.

Der britische Imperialismus eines Charles Napier mag als Blaupause im 21. Jahrhundert vielleicht undienlich sein, nicht aber das kulturelle Selbstvertrauen welches zum Überleben einer jeden Zivilisation notwendig ist.

Ralph Schöllhammer ist Assistenzprofessor für Volkswirtschaftslehre und Internationale Beziehungen an der Webster Privatuniversität Wien. Auf Twitter unter @Raphfel sowie auf seinem Podcast “The Global Wire” kommentiert er regelmäßig das globale wirtschaftliche und politische Geschehen.