Es könnte aber auch sein, dass wir nicht verstanden haben, welche Freiheit in der Kampagne gemeint war: Zeitgleich zur Debatte in Europa wurde in Kanada Carrie Bourassa von ihrer Stelle an der University of Saskatchewan suspendiert. Unter dem Namen „Morning Star Bear“ war sie 2020 als einer der einflussreichsten indigenen (i.e. Teil der Ureinwohner Kanadas) Frauen Kanadas gelistet, bis sich herausstellte, dass ihre indigenen Wurzeln frei erfunden sind und sie in Wirklichkeit osteuropäischer Herkunft ist.

Ebenfalls vergangene Woche stellte eine Untersuchung fest, dass 34% weißer Bewerber an US-amerikanischen Universitäten eine falsche ethnische Zugehörigkeit angeben (indigen, schwarz, oder hispanic) um bessere Chancen zu haben, aufgenommen zu werden. Und anscheinend funktioniert es: 77% der „Rassenschwindler“ wurden an ihrer Wunschuniversität akzeptiert.

Elizabeth Warren, die sowohl vergangene als auch zukünftige Präsidentschaftshoffnung der US-Demokraten wurde 1995 als erste farbige Frau (woman of color) und Professorin der prestigeträchtigen Harvard Law School vorgestellt. So wie Carrie Bourassa behauptete auch sie, indigener Abstammung zu sein. Nachdem Donald Trump im Wahlkampf diese Behauptung in Zweifel zog, unterzog sich Professor Warren einer DNA Analyse und sah sich bestätigt: Es bestünde die Möglichkeit, dass sie vor sechs oder zehn Generationen eine indigenen Vorfahren hatte, und sei damit zwischen 1/64 und 1/1.024 amerikanische Ureinwohnerin. Obwohl auch die offiziellen Vertreter der Cherokees ihre Stammesmitgliedschaft in Abrede stellten, beharrte sie auf ihrer Selbst-Identifikation als Native-American.

Verschärfte Pseudo-Rassenlehre

Was den wenigsten zu diesem Zeitpunkt auffiel, war das wir im 21. Jahrhundert nicht nur eine neue, sondern sogar verschärfte Pseudo-Rassenlehre zu haben scheinen. Die Nürnberger Rassegesetze der Nazis zählten Menschen mit 1/8 jüdischer Herkunft als „deutschblütig,“ aber im 21. Jahrhundert macht einen 1/64 (möglicher) indigener Herkunft zum ersten Cherokee in Harvard. Die Zahlen können teilweise verwirrend sein – so reichen 1,6% um zum Cherokee zu werden, aber Shakespeare gilt als Frauenfeind weil nur 17% seiner Stücke von Frauen gesprochen werden.

Ich kann die erwähnten Professorinnen und Studenten aber gut verstehen, und komme damit zur dritten und letzten Anekdote für heute: Im Ort Basingstoke in Großbritannien wird im Moment in einem „atemberaubenden“ Hassverbrechen ermittelt. Anscheinend hat jemand mehrere Zettel verteilt, auf denen – schwarze Schrift auf weißem Grund – geschrieben steht „It‘s Okay to be white“ („Es ist in Ordnung, weiß zu sein“). In Großbritannien kann man für die Hamas demonstrieren und die Enthauptung von Islamkritikern fordern – was alles von der Meinungsfreiheit gedeckt ist. Aber die Idee das Weißsein ok sein könnte ruft Scotland Yard auf den Plan. In einer solchen Gesellschaft würde ich auch fieberhaft nach einem Cherokee in meiner Ahnenliste suchen, um einen Weg zu finden mich nicht als weiß identifizieren zu müssen. Und damit schließt sich der Kreis zur Hijab Kampagne der EU. Um es etwas überspitzt zu formulieren: Nachdem es in Europa schwierig ist, sich als nordamerikanischer Ureinwohner zu identifizieren, kann man sich zumindest via Kopftuch von einer weißen Identität „befreien.“

Man kann diese Anekdoten als amüsante oder bedauerliche Einzelfällte oder die Verwirrungen einer woken Bürokratie abtun, aber es steckt dann doch mehr dahinter. Erstens wird die Idee der systematisch rassistischen westlichen Gesellschaften immer schwerer zu halten: In Großbritannien verdienen Anglo-Inder und Anglo-Chinesen mehr als ethnisch weiße Briten, und in den USA sind sieben der acht wirtschaftlich erfolgreichsten ethnischen Gruppen nicht weiß. Aller Kritik zum Trotz erweist sich das kapitalistisch-liberale System des Westens als jenes mit der größtmöglichen sozialen Mobilität im Vergleich zu allen anderen Systemen.

Zweitens, man muss im Westen aufpassen, dass der angestrebte anti-Rassismus nicht zum Neo-Rassismus wird, der genau jenen schadet, die man eigentlich schützen möchte. Die gängige Erzählung des weißen Unterdrückers der alle Fäden in der Hand hält und des farbigen Opfers welches nur durch mehrheitlich weiße&woke Aktivisten befreit werden kann, ist oftmals nur Rassismus mit umgekehrten Vorzeichen. Das weltberühmte Smithsonian Museum gab 2020 einen Flyer heraus demzufolge Individualismus, Pünktlichkeit, harte Arbeit, Objektivität und rationales Denken Bestandteil der „weißen“ Kultur seien – und dementsprechend in anderen Kulturen nicht vorzufinden seien. Abgesehen davon, dass das Smithsonian hier nicht nur Unsinn verbreitete, es verbreitete einen zutiefst rassistischen Unsinn – nur eben mit dem Segen der woken Eliten. Dass diese sich plötzlich im Einklang mit den schlimmsten Rassisten befanden die ebenfalls alle nicht-weißen Menschen für faul und irrational halten fiel schlussendlich dann auch dem Smithsonian auf, weshalb man den Flyer schließlich mit einer Entschuldigung zurückzog. Aber diese Art des Denkens hat sich vielerorts schon dermaßen durchgesetzt, dass niemand geringerer als Barack Obama in Rede darauf hinwies, dass zu lesen und ordentlich zu sprechen oft als „acting white“ kritisiert wird, wenn dies doch eigentlich für die gesamte Bevölkerung erstrebenswert sei.

"Rassismus der niedrigen Erwartungen"

Sowohl in den USA als auch in Europa setzt sich der sogenannte „Rassismus der niedrigen Erwartungen“ durch, der darin besteht von bestimmten Gruppen weniger zu erwarten, weil diese schlicht unfähig seien bestimmte Standards zu erreichen. Wie Ayaan Hirsi Ali in ihrem jüngsten Buch beschreibt, führt dies dann dazu beispielsweise bei Migranten vor Gericht die Herkunft als mildernde Umstände anzuerkennen, oder, wie der Ökonom Glenn Loury feststellte (mit dem ich eine lange und sehenswerte Unterhaltung dazu führen durfte), dass Tests abgeschafft werden weil bestimmte Gruppen im Schnitt schlechter abschneiden. Das mag gut gemeint sein, ist ultimativ aber nichts anderes als eine neue Form des Rassismus, da Menschen alleine aufgrund bestimmter unveränderlicher Merkmale wie Herkunft oder Hautfarbe eine verminderte Leistungsfähigkeit zugesprochen wird.

Der Wunsch westlicher Gesellschaften für die eigene Historie Buße zu tun ist so groß, dass man dafür jene Gruppen die historisch ohne Zweifel tatsächlich Opfer waren, nun zum zweiten Mal opfert. Statt jene Strukturen zu fördern, die eine Aufnahmen und Integration in das erfolgreichste Gesellschaftssystem der Geschichte erlauben würden, versucht man mit nahezu schon masochistischer Energie diese Integration zu verhindern.

Der Linguist John McWhorter hat dazu ein wunderbares Buch mit dem Titel „Woke Racism“ verfasst welches eine überzeugende Spurensuche betreibt und zeigt, dass wir es hier mit einer Art neuen Religion zu tun haben, deren Anhänger regelmäßig jenen schaden, die sie angeblich beschützen wollen. Besonders für die sogenannten intellektuellen Eliten im Westen besteht ein besonderer Reiz sich von der eigenen schulbeladenen Identität zu befreien und in einer Art Xenophilie alles zu schätzen, was nicht aus dem eigenen Kulturkreis stammt. Es ist daher auch kein Zufall wenn von Warren und Co. eine akribische Ahnenforschung betrieben wird, um eine „biologische“ Grundlage zu finden um sich von der sündhaften westlichen Kultur zu distanzieren. Ob diese Entwicklung langfristig zu einer gesunden gesellschaftlichen Entwicklung führen wird, wenn wir uns nicht als Individuen sondern nur als Mitglieder historischer Opfer- oder Tätergruppen behandeln wird sich zeigen – aber besonders optimistisch bin ich nicht.

Ralph Schöllhammer ist Assistenzprofessor für Volkswirtschaftslehre und Internationale Beziehungen an der Webster Privatuniversität Wien. Auf Twitter unter @Raphfel sowie auf seinem Podcast “The Global Wire” kommentiert er regelmäßig das globale wirtschaftliche und politische Geschehen.