Europa gibt sich der Illusion hin, die internationale Politik sei ein Popularitätswettbewerb und das Verfolgen nationaler Interessen ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert, welches sich durch gutes Zureden austreiben lässt. Und tatsächlich, wenn man Umfragen glauben darf, erfreut sich kaum ein Flecken auf der Erde solcher Beliebtheit wie Europa. Aber man sollte Popularität nicht mit Glaubwürdigkeit verwechseln: Gemocht zu werden ist nicht das gleiche wie ernst genommen zu werden. Der in Brüsseler Kreisen beliebte Analyst Parag Khanna argumentierte 2004, dass Europa die erste „metrosexuelle Supermacht“ sei – und er meinte das als Kompliment.

Damals herrschte die Überzeugung vor, das europäische Modell sei so attraktiv, dass sich die Weltpolitik freiwillig europäisieren würde – eben genauso wie der moderne Mann seine klassische Maskulinität abgelegt und durch einen metrosexuellen Lebenswandel ersetzt hat. Die EU war in dieser Sichtweise nicht eine historische Ausnahme, sondern in Umkehrung von Karl Kraus (welcher das Österreich der Zwischenkriegszeit als „Versuchsstation des Weltunterganges“ bezeichnete), die unvermeidliche Blaupause für die Zukunft der Welt. Der Artikel grenzte schon damals an Satire, aber nach der Wirtschaftskrise von 2008, der Flüchtlingskrise von 2015, Brexit und dem Versagen während der Corona Pandemie hat die EU in ihrer jetzigen Form als globales Modell wahrscheinlich ausgedient.

Der Respekt für Europa hält sich in Grenzen

Wie der chinesische Journalist Xue Qing schreibt, ist Europa für China kein entscheidender geopolitischer Faktor, und das Verhalten Russlands in Osteuropa, der Türkei im Nahen Osten und des Iran in den Nuklearverhandlungen lässt darauf schließen, dass sich auch dort der Respekt vor Europa in Grenzen hält. Niemand glaubt dort, dass die EU jemals massiv militärisch in einer Krisenregion eingreifen würde oder Europas Wirtschaftskraft über zahnlose Sanktionen hinaus als Druckmittel eingesetzt werden könnte. Russland macht keine Anstalten seine aggressive Politik gegenüber der Ukraine einzustellen, China hat unter Verletzung gültiger internationaler Abkommen die Autonomie Honk Kongs aufgehoben und der Iran ist immer noch einer der größten Sponsoren des internationalen Terrorismus von Hamas bis Hisbollah.

Der pazifistisch geneigte Leser wird sich vielleicht fragen, warum dies ein Problem darstellt und ob eine Politik der Konfliktvermeidung nicht eine kluge Strategie sei – schließlich sind dies doch alles Probleme anderer Länder in die man sich nicht einmischen sollte. Der kürzlich verstorbene ehemalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld warnte am Ende seiner Amtszeit, dass Schwäche keine Tugend, sondern eine Provokation sei. Obwohl Rumsfeld seit dem Irak-Krieg 2003 in Europa eine unwillkommene Person war, sollte man sich seine Warnung zu Herzen nehmen. Chaos ist infektiös, und so wie der Arabische Frühling am Ende zu einer massiven Flüchtlingswelle nach Europa geführt hat, kann es sich die EU auch nicht leisten bei anderen globalen Konflikten Zaungast zu spielen.

Es gibt weder einen europäischen Bezos, noch ein europäisches Amazon

Fünfzig Prozent der globalen Halbleiter werden in Taiwan produziert, und sollte der Inselstaat tatsächlich einer chinesischen Annexion zum Opfer fallen würden die Europäer dies schneller spüren als ihnen bewusst ist. Ohne Halbleiter steht von der deutschen Autoindustrie abwärts alles still – mit verheerenden sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen. Ein nukleares Wettrüsten im Nahen Osten – inklusive Bürgerkriegen von Libyen bis zum Jemen – ist ebenfalls nicht durch Untätigkeit abzuwenden, ebenso wenig wie die zu erwartenden neuen Flüchtlingswellen. All diese Bedrohungen sind wesentlich näher an Europa als den USA, welche sich schon aufgrund der geographischen Distanz und einer wesentlich dynamischeren Wirtschaft besser vor diesen Verwerfungen isolieren können. Man mag in Brüssel, Berlin, und Wien darüber lachen wenn sich Amazon Gründer Jeff Bezos ins All schießt, aber es gibt weder einen europäischen Bezos, noch ein europäisches Amazon. Das letzte europäische Großprojekt namens A-380 musste eingestellt werden, während in den USA das Zeitalter der privaten Raumfahrt beginnt. Und wer den Wettstreit zwischen Bezos, Musk, und Branson als exzentrischen Egotrip zwischen Milliardären sieht sollte sich bewusst sein, dass der Wettbewerb zwischen diesen „Spinnern“ bereits jetzt zu einer signifikanten Reduktion beispielsweise der Kosten für den Transport von Equipment ins All geführt hat – was einen Preisabfall bei satellitengestützter Kommunikation zur Folge hat. Innovationsschub und technologischer Fortschritt werden auch in den nächsten Jahren ein quasi-Monopol der USA und ihrer Unternehmen bleiben.

Hat Europa die Kraft den Konflikten in seiner unmittelbaren Nachbarschaft zu begegnen?

Solange die USA gewillt waren, die Rolle des globalen Polizisten wahrzunehmen konnten wir Europäer es uns leisten, moralische Weltmacht zu spielen, weil im Hintergrund immer der Knüppel aus Washington den sanften Worte aus Brüssel Nachdruck verleihen konnte. Was aber, wenn Washington tatsächlich das Handtuch als global Ordnungsmacht werfen sollte? Hat Europa die Kraft den Konflikten in seiner unmittelbaren Nachbarschaft zu begegnen? Josep Borell, der den byzantinischen Titel „Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik“ führen darf forderte kürzlich, Europa müsse wieder die Sprache „harter Macht“ lernen und auch militärisch handlungsfähig werden. Anscheinend hat die geopolitische Metrosexualität nun auch in Brüssel ausgedient. Am 5. Mai dieses Jahres begannen sogar Gespräche, die Rapid Reaction Force wiederzubeleben. Diese militärische Einheit, welche in Konflikten rasch eingreifen soll, wartet sein 1999 auf ihre Fertigstellung. Man darf gespannt sein, ob es dem größten Wirtschaftsblock der Erde nach 22 Jahren tatsächlich gelingt, eine Brigade mit 5000 Soldaten aufzustellen, die auch wirklich einsatzfähig ist.

Der Rückzug aus Afghanistan sollte für die EU ein Weckruf sein, sich endlich ein Rückgrat zuzulegen und auch der eigenen Bevölkerung zu vermitteln, dass man Geschichte nicht einfach aussitzen kann.

Ralph Schöllhammer ist Assistenzprofessor für Volkswirtschaftslehre und Internationale Beziehungen an der Webster Privatuniversität Wien. Auf Twitter unter @Raphfel sowie auf seinem Podcast “The Global Wire” kommentiert er regelmäßig das globale wirtschaftliche und politische Geschehen.