Langfristig wird im Konflikt mit dem politischen Islam letzteres wichtiger sein, denn keine materiell noch so gesättigte Gesellschaft kann ohne Glauben an die eigenen Werte überleben. Zivilisation benötigt ein Mindestmaß an materiellem Wohlstand, genug um ein wenig Muße zu ermöglichen. Noch mehr benötigt es jedoch Selbstvertrauen: Vertrauen in die Gesellschaft in der man lebt, Vertrauen in die Philosophie, die Gesetze, die Kraft, die Energie und die Vitalität der eigenen Zivilisation. Dieses Vertrauen löst sich seit ein paar Jahrzehnten jedoch immer mehr auf und ist im Begriff zu verschwinden und von einem kulturellen Masochismus ersetzt zu werden. Im gesamten Westen werden im Moment Statuen abgerissen, Straßen umbenannt und eine historische Reinigung vorangetrieben, welche in Wirklichkeit eine aufgezwungene Amnesie darstellt. Es ist eine gefährliche Arroganz der Gegenwart, wenn man meint man könne die Vergangenheit an heutigen Standards messen.
Wir leben von dem akkumulierten historischen Kapital vergangener Generationen, und schulden den Visionären des 19. Jahrhunderts mehr, als wir uns eingestehen wollen. Es ist leicht, eine Statue von Winston Churchill mit „Rassist“ zu besprühen oder sich über die angestaubten Habsburger lustig zu machen wenn man nicht weiß, dass es ohne Britisches Empire den Sklavenhandel und ohne Joseph den Zweiten die Leibeigenschaft noch länger gegeben hätte. Und bevor die üblichen Einwände kommen: Keine Zivilisation der Menschheitsgeschichte hat eine komplett weiße Weste, durch nur im Westen hat man eine selbstzerstörerische Lust entdeckt, sich nur auf die negativen Seiten zu konzentrieren. Und gerade jene, die bei den Kritikern in vorderster Reihe stehen sollten historisch etwas reflektierter vorgehen. Der moderne Individualismus mit seinem Recht auf körperliche Autonomie welche bei allen großen Debatten von Abtreibung bis Transgenderism eine zentrale Rolle spielt, ist fast ausschließlich ein Ergebnis der europäischen Aufklärung. Wer glaubt auf diese verzichten zu können, sollte sich im Klaren darüber sein, dass man damit auch jene Errungenschaften riskiert, welche in progressiven Kreisen so beliebt sind.

Wir nehmen es hin, wenn westliche Journalistinnen Kopftuch tragen

Der Migrationsforscher Paul Collier gab kürzlich im Standard ein Interview, in welchem er vor einer weiteren Massenmigration nach Europa warnt aber rasch hinzufügt, dass es „falsch wäre zu sagen, unsere Kultur ist überlegen.“ Professor Collier lehrt an der Universität Oxford die 1096 gegründet wurde und an der 1920 die ersten Frauen ihren Abschluss machen konnten. Unter den Taliban dürfen Frauen kein Sonnenlicht am Körper spüren und außer Islamstudien wird auch das Lehrangebot an der Universität von Kabul nur wenig mit Oxford gemein haben. Eine Kultur hat Oxford, die andere die Burka, aber laut Collier und Kollegen lässt sich daraus keine Überlegenheit ableiten. Collier weiß es natürlich besser, will sich aber nicht im Kreuzfeuer der Political Correctness wiederfinden, weshalb es leichter ist die westliche Kultur zu relativieren als die Pathologien in anderen Kulturen anzusprechen. Collier ist auch ein schönes Beispiel dafür, weshalb die Integration von Migranten immer schwieriger wird. Wie soll sich ein Neuankömmling in ein Wertesystem integrieren, an das wir selbst nicht mehr glauben.
Vom Relativismus zur Unterwerfung ist es jedoch oft nur ein kleiner Schritt: Wir nehmen es heute widerspruchslos hin, wenn westliche Journalistinnen in islamischen Ländern Kopftuch tragen, würde aber nie auf die Idee kommen, von muslimischen Journalistinnen zu verlangen im Westen ohne Kopftuch aufzutreten. Eine der wahrscheinlich mutigsten Journalistinnen der 20. Jahrhunderts, Oriana Fallaci, schleuderte keinem geringerem als Ayatollah Khomeini ihren Tschador vor die Füße und bezeichnete ihn als „idiotischen, mittelalterlichen Fetzen.“ Das war 1979 – als der iranische Präsident Rohani 2016 Fallacis Rom besuchte, verhüllte der Vatikan „nackte Statuen“ um den Besucher aus Teheran nicht zu kränken. Als Treppenwitz der Geschichte beantragte die Schweiz übrigens 2002 die Auslieferung Fallacis – wegen des Verdachts auf Islamophobie in einem ihrer letzten Bücher.

Ehrenmorde, weil Frauen zu westlich sind

Bevor sich der Autor dieser Kolumne selbst wegen vermeintlicher Islamophobie vor Gericht wiederfindet: Ich bin weder für ein Burka- noch ein Kopftuchverbot. Gleichzeitig bin ich aber auch dagegen diesen Outfits besonderen Respekt zu zollen. In einer säkularen Gesellschaft ist der Islam für mich nicht mehr als die Rotarier oder der Hannah-Montana Fanclub. Wenn sich ein Star-Wars Fan entscheiden sollte, den ganzen Tag im Darth Vader Kostüm herumzulaufen (was der Burka nicht ganz unähnlich ist), ist das sein gutes Recht – er kann sich aber auch jeder Menge Spott und Hohn von meiner Seite sicher sein. Die Re-Klerikalisierung des öffentlichen Raumes durch angeblich säkulare Politiker ist das größte Hindernis für eine Reform des Islam. In einer seiner ersten Reden als US-Präsident verkündetet Barack Obama 2009 dass, „die US Regierung vor Gerichten das Recht für Mädchen und Frauen erstritten hat den Hijab zu tragen und jene bestrafen wird, welche es verhindern wollen.“ Acht Jahre später fand der österreichische Präsident Alexander Van der Bellen seinen inneren Obama und kündigte an, alle Frauen aus Solidarität bitten zu wollen ein Kopftuch zu tragen. Beim diesjährigen Europäischen Forum Alpbach, dem Treffpunkt der intellektuellen Elite Österreichs, wurden die Tiroler Schützen mit den Taliban verglichen. Während in Afghanistan Mütter vor den Augen ihrer Kindern ermordet werden, sieht man bei den heimischen „Vordenkern“ wieder mal nur eine Gelegenheit sich über die eigenen Traditionen lustig zu machen. Ich kann mit den Tiroler Schützen ebenso wenig anfangen wie mit den Goldhauben in Oberösterreich, aber mein moralischer Kompass ist noch soweit eingenordet dass ich den Unterschied zwischen dem Lichtbratlmontag in Bad Ischl und der öffentlichen Steinigung in Gulbahar erkenne.
In den USA und Europa finden jährlich Ehrenmorde an Frauen statt weil sich diese „zu westlich“ verhalten würden, und dieser Trend wird sich dank der van der Bellens und Obamas so schnell nicht ändern. Wie soll das 16-jährige türkische Mädchen ihrem Vater erklären, dass sie lieber Minirock statt Kopftuch trägt, wenn selbst der mächtigste Mann der Welt offensichtlich letzteres bevorzugt. In einer Gesellschaft ist nicht nur der Ist-Zustand entscheidend, sondern der Trend: Und es sollte die Frage gestellt werden, ob dem Islamismus im öffentlichen Raum mehr oder weniger Platz gebührt. Der amerikanische und österreichische Präsident haben ihre Aussagen ohne Zweifel voll guter Intentionen getätigt, aber gleichzeitig für eine Seite Stellung bezogen: Sich mehr um das Recht auf Verschleierung zu sorgen als um das Recht unverhüllt am öffentlichen Leben teilnehmen zu können ist keine neutrale Position.

Frauenbadetag in Bad Vöslau

In einer Art kollektivem Stockholm Syndrom übernimmt der Westen die islamistische Weltsicht unter dem Label „Diversity“ und deutet damit die eigene Schwäche in vermeintliche Stärke um. Der Verlag der angesehenen Yale University gab ein Buch zu den Mohammed Karikaturen der dänischen Zeitung Jyllands Posten von 2005 heraus. Doch in dem Buch über die Karikaturen findet sich keine einzige der Karikaturen, weil man die Gefühle von Muslimen schützen wollte. In Wirklichkeit war die Motivation natürlich eine andere: Spätestens seit den Anschlägen auf Charlie Hebdo und die dänischen Karikaturisten hatte man auch in Yale die Panik, potentiell zum Ziel islamistischer Anschläge zu werden. Aber moralische Selbstüberhöhung klingt besser als ein Eingeständnis von Feigheit.
Was an Realsatire grenzt ist in Wirklichkeit eine Seite einer good cop – bad cop Routine mit islamistischen Fundamentalisten auf der einen, und woken Gutmenschen auf der anderen Seite. Und in der Mitte sind exakt jene Muslime, die sich ein selbstbestimmtes Leben im Westen erhofft hatten: Ayan Hirsi Ali, Hamed Abdel-Samad, Maajid Nawaz, Seyran Ateş sind nur ein paar muslimische Reformer, die sich neben den religiösen auch gegen die woken Fundamentalisten wehren müssen.
Und hier schließt sich der Kreis mit Frauentagen in Bad Vöslau, wo indirekt kommuniziert wird wann „gute“ Mädchen schwimmen gehen und wann die sogenannten „Schlampen.“ Das oben erwähnte 16-jährige türkische Mädchen wird neben der Bekleidungsvorschrift nun auch die Badetage von ihren religiösen Verwandten vorgeschrieben bekommen und die angeblich säkularen Gutmenschen machen sich weiter zu Komplizen einer fundamentalistischen Religion.
Eine Zivilisation die sich selbst aufgeben hat braucht nicht notwendigerweise die Islamisten um endgültig über die Klippe zu springen, aber manchmal schläft man „woke“ ein und wacht unter der Scharia wieder auf.

Ralph Schöllhammer ist Assistenzprofessor für Volkswirtschaftslehre und Internationale Beziehungen an der Webster Privatuniversität Wien. Auf Twitter unter @Raphfel sowie auf seinem Podcast “The Global Wire” kommentiert er regelmäßig das globale wirtschaftliche und politische Geschehen.