Zurzeit ermittelt die Staatsanwaltschaft Graz gegen mindestens 30 mutmaßliche Muslimbrüder, bei denen am 9. November 2020 Hausdurchsuchungen im Rahmen der “Operation Luxor” stattfanden. Doch sämtliche Beschuldigte bestreiten ihre Zugehörigkeit zu dieser ältesten Organisation des politischen Islam. Einem neuen, 280 Seiten langen Bericht zufolge hat die Gruppierung aber einen Geheimapparat in ganz Europa errichtet, dessen Angehörige ihre Mitgliedschaft bewusst verschleiern. Der Bericht mit dem Titel “Die paneuropäische Struktur der Muslimbruderschaft” (englisch: “The Muslim Brotherhood’s pan-European structure”) stützt sich auf Forschungsergebnisse aus zwei Jahrzehnten, sowie auf brandaktuelle Informationen aus Unternehmensunterlagen, arabischen Quellen und Interviews mit ehemaligen Mitgliedern.

"Umfassendste Übersicht, die jemals durchgeführt wurde"

Es ist “die umfassendste Übersicht und Analyse des Netzwerks der Muslimbruderschaft in Europa, die jemals durchgeführt wurde”, sagt Lorenzo Vidino, einer der beiden Autoren. Er ist Programmdirektor für Extremismus an der George Washington University und hat bereits zwei Bücher über die Muslimbrüder verfasst. Der Co-Autor ist Sergio Altuna, Analyst des Global Terrorism Programme am Elcano Royal Institute. Herausgebracht wurde der Bericht von der Dokumentationsstelle Politischer Islam, die von der österreichischen Regierung eingerichtet wurde.

Muslimbrüder sollen demnach ihre Mitgliedschaft verleugnen, obwohl sie ein langes, mühseliges Rekrutierungsverfahren durchlaufen haben und mit anderen Mitgliedern eng zusammenarbeiten. In Europa gibt es dem Bericht zufolge eine sichtbare und eine verdeckte Struktur der Muslimbrüder. Während die “echten” Mitglieder im Untergrund und geheim kooperieren, gebe es andererseits die sichtbaren nationalen und internationalen Vereinigungen, die sie gegründet haben. Der Bericht spricht von “Ablegern der Muslimbrüder”.

Binäre Struktur: öffentlich und geheim

Solche Islam-Organisationen suchen die Öffentlichkeit und beanspruchen oft, die offizielle Vertretung aller Muslime zu sein. Erwähnt werden mehrere europäische Dachverbände, darunter auch FEMYSO, ein europäisches Netzwerk muslimischer Jugend- und Studentenorganisationen, dem die Muslimische Jugend in Österreich (MJÖ) vorübergehend angehört haben soll: “Die 1996 gegründete MJÖ war für kurze Zeit (2003-2005) ein ‘außerordentliches Mitglied’ von FEMYSO, scheint aber nicht mehr formell mit der paneuropäischen Organisation verbunden zu sein”, heißt es in dem Bericht.

“Die Entscheidung der Brüder, diese binäre Struktur – eine öffentliche und eine geheime – zu schaffen, hängt weitgehend von ihrem Verständnis ab, dass Organisationen, die theoretisch nicht direkt mit der Gruppe in Verbindung gebracht werden können, effektiver in der Auseinandersetzung mit muslimischen Gemeinschaften und europäischen Gesellschaften sind”, sagt der Report.

Sprechen mit gespaltener Zunge

Frühe Ableger entstanden in Europa ab den 1960er Jahren. Gegründet wurden sie von den ersten Muslimbrüdern, die in ihrem Ursprungsland Ägypten verfolgt wurden. Sie waren entweder nach Europa geflohen oder kamen, um zu studieren.  Als klar wurde, dass ihr Aufenthalt in Europa nicht nur vorübergehend sein würden und hier auch bleibende muslimische Communities entstehen, intensivierten sie ihre Anstrengungen um Anerkennung als offizielle Vertretung der Muslime.

Eine Folge davon ist: Die Muslimbrüder sprechen zu unterschiedlichen Zielgruppen. “Ihr Wunsch, privilegierte Gesprächspartner der europäischen Einrichtungen zu werden, veranlasst sie, die Sprache der Demokratie, der Menschenrechte, des interreligiösen Dialogs, der Integration und der aktiven Bürgerschaft zu übernehmen”, unterstreicht der Bericht. “Gleichzeitig müssen die europäischen Brüder die Loyalität und den Respekt der eher konservativen Teile der muslimischen Gemeinschaft, ihrer natürlichen Zielgruppe, aufrechterhalten. Um dies zu erreichen, müssen sie Ansichten zu Themen wie Homosexualität oder Frauenrechte vertreten, die im krassen Gegensatz zu denen der europäischen Regierungen stehen.” Dies sei an ständiger Drahtseilakt.

Gegen Juden und Menschenrechte

Auch in dieser Hinsicht redeten die Muslimbrüder daher mit gespaltener Zunge. Die Autoren halten das für “besorgniserregend”. Es sei nicht schwer, Aussagen führender Vertretern der Bewegung zu finden, die sich auch in jüngster Zeit höchst negativ über andere Religionen geäußert haben. “Die Gruppe, die am häufigsten zur Zielscheibe höchst beleidigender Äußerungen der europäischen Brüder wird, sind wohl die Juden. Yusuf al Qaradawi, geistiges Oberhaupt der weltweiten Muslimbruderschaft und treibende Kraft hinter der Gründung vieler ihrer paneuropäischen Organisationen, … bezeichnete Hitler sogar als einen der vielen, die Gottes Befehl ausführen, die Juden für ihre Korruption im Laufe der Geschichte zu bestrafen.”

Mittlerweile sind laut dem Bericht “in praktisch jedem europäischen Land eine Gruppe von Aktivisten und Organisationen mit der Muslimbruderschaft verbunden”. Gleichzeitig gibt es eine gesamteuropäische Struktur, die “ein gewisses Maß an Koordination und Kommunikation ermöglicht”. Geleitet würden die paneuropäischen Strukturen “von ein paar hundert hochqualifizierten und vernetzten Aktivisten”. Dank ihrer Mobilisierungsfähigkeiten und ihres Zugangs zu umfangreichen Ressourcen konnten diese Bruderschaftsmilieus einen unverhältnismäßig großen Einfluss auf die lokalen muslimischen Gemeinschaften ausüben”.

Zwar stellten die Muslimbrüder keine unmittelbare Sicherheitsbedrohung dar, “doch sind ihre Ansichten zu mehreren Schlüsselfragen höchst problematisch und laufen den Menschenrechten und den europäischen Verfassungen zuwider.”