Der ehemalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) warnt vor einem einseitigen Ukraine-Kurs Deutschlands. „In Deutschland hat sich ein Bellizismus ausgebreitet, der riskant ist“, sagte Schily. Mit Bellizismus ist eine Form der Kriegsverherrlichung gemeint. „Ausgerechnet bei den Grünen gibt es hier eine zu große Einseitigkeit“, unterstreicht er.

Otto Schily wurde eben 90 Jahre alt.APA/dpa/Kay Nietfeld

Zu wenige Gedanken über Kriegsende

„Dabei wird zu wenig darüber nachgedacht: Wie können wir aus dem Konflikt herauskommen?“, findet der ehemalige Innenminister. „Positiv ist, dass Olaf Scholz sich diese Gedanken macht“, erklärte der Ex-Politiker mit Blick auf den Bundeskanzler. Schily, der an diesem Mittwoch 90 Jahre alt wurde, war von 1998 bis 2005 Bundesinnenminister während der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder (SPD).

„Ich kritisiere den mörderischen Krieg ohne Abstriche. Aber wir müssen die Frage stellen, welche Perspektive es über Waffenlieferungen und Geldzuwendungen an die Ukraine hinaus geben kann“, sagte Schily der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Konstruktive Ideen seien nötig. „Notwendig ist politische Fantasie.“

Zwei russische Soldaten beim Krieg in der UkraineALEXANDER NEMENOV/AFP via Getty Images
Mann mit Kind flieht aus der Stadt Irpin, westlich von Kiew.ARIS MESSINIS/AFP via Getty Images

Schily gegen Nato-Beitritt der Ukraine

Die Ukraine wolle unabhängig bleiben. Das müsse jeder anerkennen. „Aber gleichzeitig muss klar sein, dass man mit seinen Nachbarn leben muss, auch mit Russland. Beide Seiten haben Interessen, die berücksichtigt werden müssen.“ Russland werde immer ein Faktor bleiben, auch gegenüber Europa. „Wir müssen einen Weg finden, mit den Russen klarzukommen.“

Schily wies auf die ethnische, sprachliche und kulturelle Vielfalt der Ukraine hin. „Die Mehrsprachigkeit inklusive der russischen Sprache ist eine unbestreitbare Tatsache.“ Ratschläge von der Seitenlinie seien zwar immer mit Fragezeichen versehen. „Aber ein Blick auf andere Länder zeigt, dass die Interessen aller Seiten gewahrt werden können, wenn ein Land militärisch neutral bleibt“, sagte Schily. Damit lehnt Schily ein Nato-Beitritt der Ukraine ab.

Modell Schweiz als Beispiel für eine Friedenslösung

Auch einen EU-Beitritt hält er für wenig realistisch. Schily empfiehlt stattdessen das „Modell Schweiz“. Die Schweiz habe es mustergültig verstanden, „eine freiheitliche Gesellschaft zu entwickeln mit wechselseitigem Respekt vor den unterschiedlichen ethnischen Prägungen und mit militärischer Neutralität. Eine Friedenslösung für die Ukraine könnte sich ein Beispiel am Modell der Schweiz nehmen.“ Er sehe nicht, „wie ein EU-Beitritt der Ukraine funktionieren soll, ohne dass sich die EU überdehnt“.

Bundeskanzler Gerhard Schröder (r.) und Innenminister Otto Schily am 10. September 2005 in München während einer Kundgebung ihrer Partei SPD, acht Tage vor den Bundestagswahlen.APA/AFP/JEAN-CHRISTOPHE VERHAEGEN
20. Oktober 2005: Papst Benedikt XVI. begrüßt Innenminister Otto Schily (r.) am Ende eines Konzerts der Münchner Philharmoniker in der Nervi-Halle im Vatikan.APA/AFP/Vincenzo PINTO

Hoffnung mache ihm, dass die Gesprächsfäden zwischen der Ukraine und Russland nicht abgerissen seien. Das zeige der zurückliegende Austausch russischer und ukrainischer Kriegsgefangener. Das Gleiche gelte für die USA und Russland – Schily verwies auf die Einigung auf gemeinsame Flüge zur internationalen Raumstation.

Deutschland darf nicht wirtschaftlich überfordert werden

Ausdrücklich warnte Schily vor einer wirtschaftlicher Überforderung Deutschlands. „Das würde niemandem etwas nützen, auch nicht der Ukraine.“ Schily sieht sich zudem in seiner langjährigen Ablehnung des Atomausstiegs bestätigt. „Jetzt zeigt sich umso mehr, dass die komplette Verabschiedung von der Nukleartechnik töricht war.“

Deutschland dürfe nukleartechnische Innovationen nicht weiter ignorieren. „Die komplette Verabschiedung aus der Nukleartechnik hat uns wirtschaftlich in eine hochriskante Situation gebracht.“ Durch den gleichzeitigen Ausstieg von Atom und Kohle sei Deutschland vom Gas abhängig geworden. Zugleich steige mit der Energiewende der Strombedarf etwa wegen der E-Mobilität stark an.