Kardinal Roberto Bellarmin ermahnte 1616 den Astronomen und Mathematiker Galileo Galilei, die Bewegung der Erde um die Sonne nicht als überprüfbare Theorie, sondern nur als Idee zu benutzen. Galilei durfte über die These des Nikolaus Kopernikus, wonach sich die Erde um die Sonne bewegt, zwar reden, aber er durfte nicht behaupten, dass man das auch beweisen könne. Vorsichtshalber verbot die Inquisition alle Bücher, in denen die Lehre des Kopernikus verteidigt wurde.

Galilei hat in den Augen der Inquisition kein Verbrechen, sondern ein Meinungsdelikt begangen

Der Krach begann, als 1632 Galileis Buch „Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme“ erschien. Das Werk wurde als Attacke auf das Wahrheitsmonopol der Kirche gewertet. Galilei wurde verhört, und drei Theologen schrieben ein vernichtendes Gutachten. Am 22. Juni 1633 wurde Galileo Galilei, ein Wegbereiter der modernen Wissenschaft, in der römischen Kirche “Santa Maria Sopra Minerva” von einem Inquisitionsgericht verurteilt. Er hatte kein Verbrechen, sondern ein Meinungsdelikt begangen. Die Dominikaner waren damals der Inquisitionsorden. Bei den Ketzern wurden sie als „Domini canes“ (Hunde des Herrn) verspottet.

Die „Political Correctness“, durch die wir immer öfter drangsaliert werden, hat neben „Cancel culture“ zu einem weiteren Begriff geführt: „Galileisierung“. Es geht darum, dass eine falsche Meinung oder ein ketzerisches Wort in der Öffentlichkeit die Existenz oder den guten Ruf kosten kann. In Amerika gibt es sogar das neue Verbum „to galileo“. Ein „Galileisierter“ ist ein von einem herrschenden Glaubenssystem der Ketzerei bezichtigter Mensch, der den unverzeihlichen Fehler beging, eine unerlaubte Meinung zu haben.

Die heutigen „Neojakobiner“ jagen politische Abweichler in den Internetforen

Heute gibt es nicht theologische, sondern politische Inquisitoren, die auch als „Neojakobiner“ bezeichnet werden. Sie jagen in den Internetforen politische Abweichler und Menschen, die vermeintlich Böses sagen. Bekannt wurden die neuen Inquisitoren und Jakobiner durch ihre tapfere Jagd auf Wörter. Mohrenapotheken, Mohrenköpfe, Mohrengassen, Mohrenbier und Ähnliches werden bekämpft, was auch peinlich enden kann. Der Besitzer eines Lokals namens „Mohrenkopf“ in Kiel ist humorvoller Afrikaner, der meint, er könne sein Lokal nennen, wie er wolle. Auch die österreichische Kabarettistin Lisa Eckart bekam die fast schon pathologische Humorlosigkeit von Neojakobinern zu spüren. Sie verwendet das Stilmittel der Persiflage und der Verspottung durch Überzeichnung, was schlichte Gemüter nicht verstehen.

Wer nun glaubt, es handle sich bei den galileisierten Zeitgenossen um Einzelfälle, täuscht sich. Auf der Internetseite cancelculture.de werden nur Namen im deutschsprachigen Raum aufgezählt, die in das Schussfeld der Neoinquisitoren und Neojakobiner geraten sind. Man findet dort Namen wie Boris Palmer (Oberbürgermeister von Tübingen), Moritz Bleibtreu (deutscher Schauspieler), Eva Herzig (österreichische Schauspielerin), Hamed Abdel-Samad (ägyptisch-deutscher Autor), Woody Allen (US-Schauspieler und Regisseur), Dire Straits (Rockband), Birgit Kelle (deutsche Autorin), Dieter Nuhr (deutscher Kabarettist) und noch viele andere. Auch mir ist die große Ehre zuteil geworden, mit Hilfe spießiger Provinzpolitiker in diese Liste aufgenommen zu werden.

Zurzeit geht es nicht um Chancengleichheit, sondern um Ergebnisgleichheit

Wiederkehrende Begriffe wie „Klimagerechtigkeit“, „Bildungsgerechtigkeit“, „Verteilungsgerechtigkeit“ zeigen, dass die Motive der Neoinquisitoren nicht die Chancengleichheit, sondern die Ergebnisgleichheit ist. In deutschsprachigen Ländern, und nicht nur dort, werden nur sportliche Erfolge toleriert. Wer mehr Geld verdient als der Durchschnitt, steht nicht selten unter einem Generalverdacht.

In der Antike gibt es die Sage des psychopathischen Unholds Prokrustes, der von Beruf Schmied war und der fast alle, die seinen Weg kreuzten, grausam folterte. Er lebte in einer Burg, die an einer Straße nach Athen lag. Aus diesem Grund kamen viele Reisende an seinem Haus vorbei. Prokrustes besaß ein Eisenbett, das der Länge und Breite nach genau seinem Körper angemessen war.

Man wird zurechtgestutzt wie auf dem Eisenbett des Prokrustes

In seiner Burg empfing Prokrustes die Reisenden stets mit offenen Armen. Die Gastfreundlichkeit endete, als es Zeit wurde, sich zu Bett zu legen. Dann geleitete Prokrustes seine Gäste in sein Eisenbett, wo das Grauen begann. War der Gast größer als das Bett, so hackte er ihm seine Gliedmaßen so ab, dass er ins Bett passte. War der Gast kleiner als das Bett, so wurde der Körper des Opfers auf einer Streckbank in die Länge gezogen bis die Gelenke brachen. Der Körper des Gastes musste den Ausmaßen des Eisenbetts entsprechen, das war das Einzige, was für Prokrustes zählte. Prokrustes wurde später von König Theseus erschlagen.

Unser Theseus ist die Natur und der unbeugsame Wille der Ketzer. Seit Jahrtausenden versuchen Pharaonen, Könige, Kaiser, Päpste, Diktatoren, Philosophen, Ideologen und andere Prokrustiden, Menschen in genormte Betten zu drücken, wo sie einheitlich zurechtgehackt oder gestreckt werden, was aber immer nur kurz gelingt. Die Menschen haben sich noch jedes Mal aus dem Bett der Unterdrückung erhoben. Wir werden die Prokrustiden des 21. Jahrhunderts eines Tages niederringen. Bis es so weit ist, werden leider noch viele Zeitgenossen von kleinkarierten Meinungsjägern galileisiert werden.