Nicht, dass es keine Pflicht gäbe – etwa die selbstverständliche Pflicht der Sorge für Behinderte, Kinder und Kranke – aber Pflicht definiert jeder „Denker“ anders. Pflicht lässt sich aus dem freien Willen nicht ableiten. Diesen Mangel beseitigten im Laufe der Jahrhunderte Herrscher und diverse Ideologen. Man versprach den Menschen Freiheit, um sie in Wahrheit zu verpflichten und zu schikanieren.

Was hat man nicht alles versucht, um die Menschheit im Namen der Freiheit zu quälen! Man erfand Begriffe wie etwa den „homo novus“. Während der Französischen Revolution wurde der Mensch zum „l’homme nouveau“. Bei Friedrich Nietzsche hieß er „Übermensch“, die Nationalsozialisten erfanden eine „völkische Lichtgestalt“, und bei den Sozialutopisten hieß der programmierte Mensch „New man“ oder – in Skandinavien – „ny människa“. Bei den Kommunisten war der neue Mensch ein Proletarier.

Bei den griechischen Philosophen Sokrates und Platon ging es um Freiheit und Schicksal, bei Epikur um Freiheit von Leiden und im Mittelalter hatte man frei von Schuld und Sünde zu sein. Künstler und Wissenschaftler verstehen Freiheit als Möglichkeit, eigene Ideen in die Tat umsetzen zu können. Die Existenzphilosophen der Moderne haben Freiheit schließlich so umständlich definiert, dass niemand mehr versteht, worum es geht.

Dressur

Kaiser, Könige, Päpste, Fürsten, Inquisitoren, Ideologen, Diktatoren und andere haben über die Jahrhunderte versucht, die Freiheit in ihrem Sinne zu definieren, meist jedoch gänzlich abzuschaffen. Einige wenige haben auf die sanfte Tour versucht, die Untertanen in ihrem Sinne zu dressieren, was immer nur kurzfristig funktioniert hat. Die meisten sind blutig vorgegangen. Konkrete Beispiele müssen nicht erwähnt werden.

Heute erleben wir in Echtzeit eine Serie von Versuchen, den Menschen erneut die Freiheit zu nehmen. Es geht um die Ideologien des Genderismus, des politischen Korrektismus und des Wokismus. Die Lage ist inzwischen so unerträglich, dass in Westeuropa und in den USA ein einziges falsches Wort in der Öffentlichkeit genügt, um eine Existenz zu vernichten. Das Erstaunliche an der Entwicklung liegt darin, dass die Protagonisten der neuen Ideologien nicht gerade die Hellsten sind. In der Regel handelt es sich um Zivilversager.

Selbsttäuschung

Die Sache erinnert an die „Cargo Cult“-Geschichte. Der grandiose Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman hat 1974 anlässlich einer Festrede an der Elite-Universität California Institute of Technology (Caltech) den Ausdruck „Cargo Cult Science“ verwendet. Der Begriff kann nur schwer übersetzt werden. Es ist nach Feynman eine Form von Wissenschaft, die im Gegensatz zu den vielen Pseudowissenschaften die formalen Kriterien einer wissenschaftlichen Vorgehensweise gerade noch erfüllt, der aber die innere Konsistenz fehlt. Cargo Cult Science kann als Inbegriff der Selbsttäuschung gesehen werden.

Feynman beschrieb ein Beispiel für Cargo Cult Science. Auf den pazifischen Samoainseln bewunderten die Einheimischen die Flugzeuge, die während des 2. Weltkrieges gelandet waren und faszinierende neue Dinge gebracht hatten. Bald darauf entstand ein denkwürdiger Ritus. Die Eingeborenen legten künstliche Landebahnen an, neben denen sie Feuer entzündeten, um die Signallichter nachzuahmen. In einer Holzhütte saß ein Eingeborener mit hölzernen Kopfhörern. Auch Radartürme aus Holz wurden gebaut und einige andere Geräte, um so die Flugzeuge anzulocken, die ihnen noch mehr schöne Dinge bringen sollten. Sie machten der Form nach alles richtig, aber es funktionierte nicht. Kein einziges Flugzeug landete.

Professor Feynman machte sich mit seiner Erzählung nicht über die Eingeborenen lustig. Er verwendete das Beispiel nur, um den Studenten klarzumachen, dass Cargo-Kult-Riten von Ideologien nicht zu unterscheiden sind. Es ist so gut wie unmöglich, den Betreibern einer Cargo Cult Science die Aussichtslosigkeit ihres Bestrebens zu erklären, denn nichts ist so mächtig wie eine Selbsttäuschung – der siamesische Zwilling der Ideologie.

Innere Widersprüche

Genderismus, neue Geschlechterthesen, Wokismus und verwandte Ideologien in Europa und in den USA haben mit Wissenschaft nichts zu tun. Es ist Cargo Cult plus Meinungsterror. Diejenigen, die glauben, man müsse die Sprache ändern, um das Bewusstsein für Gerechtigkeit zu schärfen, befinden sich in der Position der Eingeborenen, die Flugplätze aus Bambus bauen. Die inneren Widersprüche des Genderismus, des politischen Korrektismus und des Wokismus sind so enorm, dass sie ganze Bibliotheken füllen würden, werden von den Cargo-Cult-Wokies jedoch nicht erkannt oder vollkommen ignoriert.

Der allumfassende Schwachsinn entstand, als Sozialdemokraten, Grüne, US-Demokraten und andere Parteien Studenten der Gesellschafts„wissenschaften“ in die Parteien holten und aufwerteten. Migrations-, Armuts-, Sexismus-, Rassismus-, Postmodernismus- und sonstige „Forschende“ begannen nach und nach, Cargo Cult mit „Wissenschaft“ gleichzusetzen und in der Folge die Inquisition des 17. Jahrhunderts samt Hexenprozessen wiederzubeleben. Abweichler werden heute gesellschaftlich verfolgt, denunziert und viele von ihnen ruiniert.

Es wird hier noch öfter von Cargo-Cult-Riten des 21. Jahrhunderts die Rede sein. Wir werden in den nächsten Monaten nach und nach eine Reise in die schöne neue Welt des Irrsinns machen. Schnallen Sie sich an!

Rudolf Öller ist promovierter Genetiker der Universität Tübingen und seit Jahrzehnten sowohl als Kolumnenschreiber als auch als Buchautor publizistisch tätig. Öller ist gebürtiger Oberösterreicher, hat in AHS und BHS Naturwissenschaften und Informatik unterrichtet und war ehrenamtlicher Rettungssanitäter, Blaulichtfahrer und Lehrbeauftragter beim Roten Kreuz. Er lebt heute in Vorarlberg.