Herausragende Persönlichkeiten gehen als Kapitelüberschriften in die Geschichte ein. Ganz besonders herausragende Personen bleiben zudem im kollektiven Gedächtnis haften, wie Michelangelo Buonarroti (Künstler), Ludwig van Beethoven (Komponist), Florence Nightingale (Soziales), Albert Einstein (Wissenschaft), Beatles (Popmusik) sowie Marilyn Monroe und Sean Connery (Film). Die Liste ist zweifellos unvollständig.

Politiker haben es schon schwerer, wenn sie nicht nur als Fußnoten in die Geschichte eingehen wollen. Zumeist überdauern nur die Massenmörder im Gedächtnis der Völker. Seriöse Könige, Fürsten, Päpste und Politiker leben in Form von wohlwollenden Berichten in Geschichtsbüchern weiter. Politiker, die als „Große“ in die Geschichte eingehen wollen, müssen Reichsgründer werden. Gaius Octavius, bekannt geworden als Kaiser Augustus, vergrößerte das Römische Reich so schnell, dass er die Zahl der Bewohner nicht einmal größenordnungsmäßig kannte. Er befahl eine Volkszählung, die sogar im Weihnachtsevangelium erwähnt wird. Kaiser Karl der Große, genannt auch Carolus Magnus oder Charlemagne, gründete das „Fränkische Reich“. Karl gelang es, seine Macht nicht nur zu sichern, sondern das Reich nach außen beträchtlich zu erweitern.

Fünf Großmächte

Europa bestand nach dem Wiener Kongress 1815 aus einem Gemenge unbedeutender Länder und den fünf Großmächten England, Frankreich und den Mächten der „Heiligen Allianz“ Österreich, Preußen und Russland. Das Kaiserreich Russland enthielt damals auch die baltischen Länder Litauen, Kurland, Livland und Estland. Sogar Finnland (!) gehörte damals dem Zaren. Das Gebiet des heutigen Deutschlands („Deutscher Bund“) war ein ungeordnetes Konglomerat. Fürst Otto von Bismarck war ein politisches Genie. Er provozierte als preußischer Kanzler einen Krieg gegen Frankreich, was nach Preußens Sieg zum zweiten Deutschen Reich führte. Wieder war es ein Reichsgründer, der nicht nur als Name, sondern als „Großer“ in die Geschichte einging. Im zwanzigsten Jahrhundert folgten in Europa das unselige „Dritte Reich“ der Nationalsozialisten und die kommunistische Sowjetunion. Beide Reiche sind kollabiert.

Putins Geschichtsstunde

Niemand kann in den Kopf von Wladimir Putin schauen, aber nach allem, was er bisher in Artikeln und Reden gesagt hat, dürfte er zwei Hauptmotive für sein Vorgehen haben.

Ein Beweggrund Putins ist der Wunsch, als erster großer Reichsgründer des 21. Jahrhunderts in die Geschichte einzugehen. Vorbilder sind, wie erwähnt, Imperator Augustus, Karl der Große und andere.

Putins zweiter Antrieb ist sein Geschichtsbild. Im Juli 2021 brachte die „Neue Zürcher Zeitung“ einen kaum beachteten Bericht über einen kurz zuvor auf der Webseite des Kremls erschienenen Aufsatz. Das Pamphlet ist überschrieben mit „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“ und mit „W. Putin“ unterzeichnet. Der Text rechtfertigt sowohl territoriale Ansprüche als auch ein Eingreifen jeglicher Art. Die Ukraine kommt in Putins Aufsatz nur in Abhängigkeit von Russland vor. Damit ist klar, dass irgendwelche Bedrohungsszenarien durch NATO oder EU nur vorgeschoben sind. Putins Behauptung, Russland bekämpfe in der Ukraine nur Nazis und verhindere einen Genozid an Russen ist nichts als Unsinn.

In einem TV-Interview sagte Putin nach seinem Ukraine-Artikel: „Wir werden nie akzeptieren, dass unsere historischen Territorien und die dort lebenden, uns nahe stehenden Menschen gegen Russland verwendet werden.“ Echte Souveränität, so Putin, werde es für die Ukraine nur in „Partnerschaft“ mit Russland geben. Ein demokratisches Selbstbestimmungsrecht existiert für Putin also nicht.

Der beleidigte Nationalist

Man mag Putin vorwerfen, was man will, aber seine Absichten hat er nie verheimlicht. Er sagt deutlich, wie er sich die Zukunft Russlands vorstellt. Er sieht in der Konstruktion der Sowjetunion ein Übel, das zum Zerfall führen musste: Es war die Möglichkeit, aus der Union austreten zu können. Litauen hat nach Gorbatschows Entmachtung den Anfang gemacht, andere Länder folgten. So etwas soll laut Putin nie wieder geschehen dürfen. Damit ist Putins Weg klar. Die Ukraine soll besetzt und der großen Mutter Russland vollständig einverleibt werden. Es taucht bei Hobbyhistoriker Putin immer wieder der gleiche Gedanke auf. Bei der Gründung der Sowjetunion sei die Ukraine auf Kosten des historischen Russlands ausgegliedert und zu einer eigenen Sowjetrepublik gemacht geworden. Russland sei damals durch die Bolschewiken territorial beraubt worden. Hier spricht der beleidigte Großrusse Putin, der weniger der Sowjetunion als dem Russischen Reich der Zaren nachtrauert. Putin erweist sich hier als großrussischer Nationalist. Seine Bewunderer befinden sich genau in diesem Lager.

Was lernen wir daraus?

Erstens: Amerika und Westeuropa müssen vorsichtig sein, die handelnden Politiker sollten einen kühlen Kopf bewahren und Putin eine Hintertür zum Beenden des Krieges offen lassen. Das Demütigen von Politikern und ganzen Völkern hat sich zu oft gerächt. In der Geschichte gibt es zahlreiche Beispiele dafür.

Zweitens: Putins Vorstellung von Russland beruht wie diejenige der Panslawisten des 19. Jahrhunderts auf einer scharfen Abgrenzung vom Westen. Putins Fernsehansprache vom 24. Februar 2022 zielt in diese Richtung und klingt eher wie eine Kriegserklärung an den Westen als an die Ukraine. Sollte Putin diesmal verlieren und/oder abgesetzt werden, so wird mit Sicherheit irgendwann ein Putin 2.0 kommen, der die großrussischen Ansprüche sogar erweitern könnte. Dann wird es um eine „Rückholung“ von Teilen Polens, von Finnland und den baltischen Staaten ins großrussische Reich gehen.

Der Traum von einem großrussischen Reich in den Grenzen von 1815 und eventuell darüber hinaus wird nicht verschwinden. Neo-Zar Putin zeigt, dass dieser Wille noch lange stark bleiben wird. Putin beklagt gleichzeitig die schmerzlichen Sanktionen durch den Westen. Außenminister Lawrow spricht sogar von „Diebstahl“. Da Putin den Krieg in der Ukraine als „Spezialoperation“ bezeichnet, könnte sich der Westen propagandistisch revanchieren. Die Sanktionen sind demnach nichts anderes als eine finanzielle Spezialoperation im Dienste des Friedens.