Rudolf Öller: Reichsgründer
Zwar kann niemand in Putins Kopf hineinschauen, aber offensichtlich möchte er als erster großer Reichsgründer des 21. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen. Seine Worte sind ehrlich: In ihm spricht der beleidigte Großrusse, der dem Russischen Reich der Zaren nachtrauert, findet eXXpress-Kolumnist Rudolf Öller.
Herausragende Persönlichkeiten gehen als Kapitelüberschriften in die Geschichte ein. Ganz besonders herausragende Personen bleiben zudem im kollektiven Gedächtnis haften, wie Michelangelo Buonarroti (Künstler), Ludwig van Beethoven (Komponist), Florence Nightingale (Soziales), Albert Einstein (Wissenschaft), Beatles (Popmusik) sowie Marilyn Monroe und Sean Connery (Film). Die Liste ist zweifellos unvollständig.
Politiker haben es schon schwerer, wenn sie nicht nur als Fußnoten in die Geschichte eingehen wollen. Zumeist überdauern nur die Massenmörder im Gedächtnis der Völker. Seriöse Könige, Fürsten, Päpste und Politiker leben in Form von wohlwollenden Berichten in Geschichtsbüchern weiter. Politiker, die als „Große“ in die Geschichte eingehen wollen, müssen Reichsgründer werden. Gaius Octavius, bekannt geworden als Kaiser Augustus, vergrößerte das Römische Reich so schnell, dass er die Zahl der Bewohner nicht einmal größenordnungsmäßig kannte. Er befahl eine Volkszählung, die sogar im Weihnachtsevangelium erwähnt wird. Kaiser Karl der Große, genannt auch Carolus Magnus oder Charlemagne, gründete das „Fränkische Reich“. Karl gelang es, seine Macht nicht nur zu sichern, sondern das Reich nach außen beträchtlich zu erweitern.
Fünf Großmächte
Europa bestand nach dem Wiener Kongress 1815 aus einem Gemenge unbedeutender Länder und den fünf Großmächten England, Frankreich und den Mächten der „Heiligen Allianz“ Österreich, Preußen und Russland. Das Kaiserreich Russland enthielt damals auch die baltischen Länder Litauen, Kurland, Livland und Estland. Sogar Finnland (!) gehörte damals dem Zaren. Das Gebiet des heutigen Deutschlands („Deutscher Bund“) war ein ungeordnetes Konglomerat. Fürst Otto von Bismarck war ein politisches Genie. Er provozierte als preußischer Kanzler einen Krieg gegen Frankreich, was nach Preußens Sieg zum zweiten Deutschen Reich führte. Wieder war es ein Reichsgründer, der nicht nur als Name, sondern als „Großer“ in die Geschichte einging. Im zwanzigsten Jahrhundert folgten in Europa das unselige „Dritte Reich“ der Nationalsozialisten und die kommunistische Sowjetunion. Beide Reiche sind kollabiert.
Putins Geschichtsstunde
Niemand kann in den Kopf von Wladimir Putin schauen, aber nach allem, was er bisher in Artikeln und Reden gesagt hat, dürfte er zwei Hauptmotive für sein Vorgehen haben.
Ein Beweggrund Putins ist der Wunsch, als erster großer Reichsgründer des 21. Jahrhunderts in die Geschichte einzugehen. Vorbilder sind, wie erwähnt, Imperator Augustus, Karl der Große und andere.
Putins zweiter Antrieb ist sein Geschichtsbild. Im Juli 2021 brachte die „Neue Zürcher Zeitung“ einen kaum beachteten Bericht über einen kurz zuvor auf der Webseite des Kremls erschienenen Aufsatz. Das Pamphlet ist überschrieben mit „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“ und mit „W. Putin“ unterzeichnet. Der Text rechtfertigt sowohl territoriale Ansprüche als auch ein Eingreifen jeglicher Art. Die Ukraine kommt in Putins Aufsatz nur in Abhängigkeit von Russland vor. Damit ist klar, dass irgendwelche Bedrohungsszenarien durch NATO oder EU nur vorgeschoben sind. Putins Behauptung, Russland bekämpfe in der Ukraine nur Nazis und verhindere einen Genozid an Russen ist nichts als Unsinn.
In einem TV-Interview sagte Putin nach seinem Ukraine-Artikel: „Wir werden nie akzeptieren, dass unsere historischen Territorien und die dort lebenden, uns nahe stehenden Menschen gegen Russland verwendet werden.“ Echte Souveränität, so Putin, werde es für die Ukraine nur in „Partnerschaft“ mit Russland geben. Ein demokratisches Selbstbestimmungsrecht existiert für Putin also nicht.
Der beleidigte Nationalist
Man mag Putin vorwerfen, was man will, aber seine Absichten hat er nie verheimlicht. Er sagt deutlich, wie er sich die Zukunft Russlands vorstellt. Er sieht in der Konstruktion der Sowjetunion ein Übel, das zum Zerfall führen musste: Es war die Möglichkeit, aus der Union austreten zu können. Litauen hat nach Gorbatschows Entmachtung den Anfang gemacht, andere Länder folgten. So etwas soll laut Putin nie wieder geschehen dürfen. Damit ist Putins Weg klar. Die Ukraine soll besetzt und der großen Mutter Russland vollständig einverleibt werden. Es taucht bei Hobbyhistoriker Putin immer wieder der gleiche Gedanke auf. Bei der Gründung der Sowjetunion sei die Ukraine auf Kosten des historischen Russlands ausgegliedert und zu einer eigenen Sowjetrepublik gemacht geworden. Russland sei damals durch die Bolschewiken territorial beraubt worden. Hier spricht der beleidigte Großrusse Putin, der weniger der Sowjetunion als dem Russischen Reich der Zaren nachtrauert. Putin erweist sich hier als großrussischer Nationalist. Seine Bewunderer befinden sich genau in diesem Lager.
Was lernen wir daraus?
Erstens: Amerika und Westeuropa müssen vorsichtig sein, die handelnden Politiker sollten einen kühlen Kopf bewahren und Putin eine Hintertür zum Beenden des Krieges offen lassen. Das Demütigen von Politikern und ganzen Völkern hat sich zu oft gerächt. In der Geschichte gibt es zahlreiche Beispiele dafür.
Zweitens: Putins Vorstellung von Russland beruht wie diejenige der Panslawisten des 19. Jahrhunderts auf einer scharfen Abgrenzung vom Westen. Putins Fernsehansprache vom 24. Februar 2022 zielt in diese Richtung und klingt eher wie eine Kriegserklärung an den Westen als an die Ukraine. Sollte Putin diesmal verlieren und/oder abgesetzt werden, so wird mit Sicherheit irgendwann ein Putin 2.0 kommen, der die großrussischen Ansprüche sogar erweitern könnte. Dann wird es um eine „Rückholung“ von Teilen Polens, von Finnland und den baltischen Staaten ins großrussische Reich gehen.
Der Traum von einem großrussischen Reich in den Grenzen von 1815 und eventuell darüber hinaus wird nicht verschwinden. Neo-Zar Putin zeigt, dass dieser Wille noch lange stark bleiben wird. Putin beklagt gleichzeitig die schmerzlichen Sanktionen durch den Westen. Außenminister Lawrow spricht sogar von „Diebstahl“. Da Putin den Krieg in der Ukraine als „Spezialoperation“ bezeichnet, könnte sich der Westen propagandistisch revanchieren. Die Sanktionen sind demnach nichts anderes als eine finanzielle Spezialoperation im Dienste des Friedens.
Kommentare
Seit 2015 wird dasselbe Schema “geschrieben” 🤭🤫
Wir wissen heute noch nicht wer den nächsten Friedens-Nobelpreis bekommen wird, aber wir wissen, es wird derjenige sein, der den ersten Schritt wagt und auf Putin zugeht, um mit ihm zu verhandeln.
Putin wird harte Friedensbedingungen stellen, weil er weiß, es gibt für den Westen keine Alternative außer Sanktionen ohne Ende die schlussendlich Europa selber in die Knie zwingt.
Österreich hat niemals zum gross-russischen Reich gehört und dürfte auch kein Ziel Putins werden. Dann sollten wir uns aber auch strikt neutral verhalten. Wegen der Ukraine brauchen wir keinen 3.Weltkrieg riskieren.
Die Westukraine war Teil des Habsburgerreichs, wir haben eine gemeinsame Geschichte.
Man sollte nicht so tun, als ginge uns das gar nichts an.
Test
Da ich Verwandtschaft in beiden Ländern habe, betrachte ich mich weder als Streichler noch als Hasser. Wie formulierte es Onkel Iwan unlängst so treffend: “Eigentlich sind mein und Franks Heimatland Nachbarn. Wir sollten unsere Streitigkeiten rund um die Beringsee austragen …”
In den Vorlesungen über das Sowjetrecht ist noch in Erinnerung, dass die Verfassung der UdSSR sehr wohl den Austritt der einzelnen Mitglieder der SU vorsah , ABER jeder der nur ansatzweise diese Idee vorgeschlagen hätte, wurde durch das Strafrecht sofort kriminalisiert und dementsprechend verfolgt.
Man darf sich das ruhig mal anschauen:
“Wie weiter mit der Ukraine? Nikolaj Platoschkin” … Findet man auf der Tube, wenn man will.
@ Igonta : da decken sich aber die “Strafbestimmungen” der szt. UDSSR und der jetzigen EU gaaanz genau , ohne Abweichung ! Interessanter Ansatz !
Nun ist für mich auch klar, welche der beiden Organisationseinheiten langfristig überleben wird : es ist NICHT die EU !! 🙂 🙂 Und das ist gut so….
Ich habe mir den irrtümlich veröffentlichten Text genau angesehen, der wenige Tage nach Beginn der Invasion in den staatlichen Medien Russlands veröffentlicht wurde.
Danach war mir klar, dass Putin nicht weniger vorhatte, als ein neues russisches Reich zu gründen und die Ukraine zur Gänze aufzulösen. Es ist zwar von einem “Bund zwischen Großrussen, Weissrussen und Kleinrussen die Rede – eine Staatlichkeit der Ukraine wird aber ausgeschlossen.
Und an alle Putinversteher, die hier mitlesen: Bitte lest euch den Text in Ruhe durch. Europa kommt in diesem Text nur als Beute vor. Ernst genommen werden nur die USA und eben Russland als gleichwertige Spieler – wobei Russland deutlich macht, ebenfalls ein Recht auf seine Teil der Beute Europa zu haben, und eben nicht nur die USA.
Da gibt es mehr als diesen Text !
2001 sprach Putin im dt. Bundestag.
Hören Sie ihm doch da zu wie er die Hand nach Europa ausstrecken.
2008 sollte beim natogipfel in bulgarien erwähnt werden dass die USA die Ukraine in die Nato haben wollten….
AB DA BEGANNEN DANN DIE PROBLEME !
Ich verstehe nicht viel von Waffen.
Aber die Ausdehnung der nato bis vd Haustüre bedeutet dass Russland seine Raketen nicht mehr hoch bekommt bevor die abgeschossen werden.
Wie haben die USA auf solch ein Szenario in Kuba reagiert ?
Davor haben die USA noch Raketen in der Nato Türkei installiert.
Die wurden danach heimlich abgebaut als der Deal mit den Russen stand.
Ein aus Versehen veröffentlichter Text ist ein Mosaikstein aber bei weitem nicht alles.
Wie das Amen im Gebet kommt von obsessiven Selbsthassern das “Argument” ,dass auch der Westen bösen war. Als ob das der gegenwärtigen Diskussion einen intellektuellen Mehrwert brächte. Diese Pseudokritiker zipfen mich ob ihrer oberlehrerhaften Selbstüberhebung und ihrer Versuche gegenwärtige Verbrechen zu relativieren fürchterlich an.
Es gibt eine Auflistung über die “Sozialoperationen” des Westens seit dem Ende des 2. Weltkrieges. Diese Liste ist erschreckend lang und gleichzeitig die Folge für viele weitere Konflikte. Niemand ist scheinbar gewillt, diesen Teufelskreislauf zu durchbrechen …
Wenn ich die Wahl hätte, wer mein Land besetzen darf, so wäre Russland an vorletzter und Nordkorea an letzter Stelle. Sogar China käme noch vor Russland und das will was heißen, denn ich kenne alle dieser Länder zur Genüge. Ich stelle immer wieder fest, dass die Putinstreichler im Westen nie Russland bereist haben, und die Amerikahasser haben null Ahnung von den USA. Sie haben eine vorgefasste Meinung und lesen sich ihr “Wissen” mühsam an. Es handelt sich um “Wissen” das beim kleinsten Kontakt mit der Realität krachend zerschellt.
Da ich Verwandtschaft in beiden Ländern habe, betrachte ich mich weder als Streichler noch als Hasser. Wie formulierte es Onkel Iwan unlängst so treffend: “Eigentlich sind mein und Franks Heimatland Nachbarn. Wir sollten unsere Streitigkeiten rund um die Beringsee austragen …”
Eine treffende Analyse. Die Konsequenz ist, dass Vernunft und Verhandlungen wirkungslos sind. Besonnen agieren, aber keinen Millimeter nachgeben, die Sanktionen aufrecht erhalten und die Ukraine so gut wie möglich zu unterstützen sind die zu treffenden Maßnahmen.
Die Sanktionen gegenüber den stink- und perversreichen russischen Kleptokraten (Produkte von Adidas, Gucci, Mastercard usw. usf.) sind kontraproduktiv. Geschenkt. Sinnvoll sind nur Sanktionen im technologischen Bereich, denn auf diesem Gebiet haben die Russen absolut nichts zu bieten. Da arbeiten sie auf Steinzeitniveau. Die Russen haben jegliche Technologie gestohlen. Die Raumfahrttechnologie haben sie von den Deutschen, die Atomtechnologie haben sie vom Spion Klaus Fuchs bekommen, und alles was nachher kam, haben sie über ihre Agenten geklaut. Aus diesem Grund kann man diese Verrückten nur über ihre nicht vorhandene Technologie erwischen.
Kennen Sie die erweiterte Monroe-Doktrin? Ist Ihnen der Hindukusch ein Begriff? Unter geostrategischen Gesichtspunkten, ganz ohne Sesselkreis-Gesang, durchaus legitime Anliegen von “unserer” Seite, die uns die Kontrolle über “deren” Rohstoffe sichern sollen, unter anderem. Und was Propaganda betrifft, kann er sich auch noch einiges abschauen, Bernays lässt grüßen.
Trotz des imminenten Risikos wurden Gasspeicher nicht gefüllt und eine Vizepräsidentin zündelt bei einer Sicherheitskonferenz, eine Person, die nach Beginn des Krieges bei einer Pressekonferenz in schallendes Gelächter über ihren eigenen Schmäh ausbricht. Hmmmm?
Monroe-Doktrin? Die kenne ich selbstverständlich. Reden wir nicht um den heißen Brei. Wenn Russland und die USA Diktaturen mit hegemonialen Ansprüchen wären (bitte keine dümmliche Diskussion darüber, dass die USA böse ist, aber Russland in Wahrheit gut ist …), dann würde ich tausendmal die USA bevorzugen und nullmal die Russen. Begründung: Beide Länder sind nicht perfekt und haben Defizite, aber nach mehreren Besuchen der USA und Russlands bleibt nur ein Fazit: BEIDES PROBIERT, KEIN VERGLEICH – trotz der vielen Kritikpunkte an den USA.
Ich schrieb ja, durchaus legitim. Ich war in beiden Ländern und lebe eindeutig lieber unter Kennedy als unter Chruschtschow oder Mao. Aber unsere heutigen Kennedys nähern sich mit Riesenschritten diesen an, wie insbesondere die letzten 2 Jahre immer aufdringlicher werdender Gedankenpolizei beweisen. Konfiskation von Eigentum ohne Rechtsgrundlage zum Beispiel, demnächst vielleicht das Konzentrieren aller Russischstämmigen, öffentlich für sein Geburtsland Abbitte leisten müssen, das sind etwa Dinge, die mir nicht gefallen.
@Rudolf: Fragen sie mal nach in Lybien, Irak, Iran, Afghanistan, etc. ob die dortigen Leutchen auch so gerne die USA bevorzugen würden. Glauben sie denn ernsthaft, denen allen gefällt es, dass sie grund- und sinnlos platt gemacht und in die Steinzeit zurück gebombt wurden?
Eine sehr gute Analyse, Herr Öller!
Schöne Analyse. Stellt sich die Frage: Cui bono. Wem nützt es, dass Putin provoziert wurde. Einmal wurde Nord Stream 2 eingestellt, dann überschwemmen 10 Millionen Ukrainer die ohnehin schon überlasteten Sozialsysteme, China kann die Involvierung der USA/EU für den weiteren Aufstieg zur wirtschaftlichen und militärischen Weltmacht fortsetzen, sehe wie machtlos in der Zwischenzeit Europa geworden ist, wirtschaftlich UND militärisch.