In einem kürzlich erschienen Kommentar mit dem Titel „Ungleiche Bildungschancen“ heißt es in den Vorarlberger Nachrichten wörtlich: „Fast 60 Prozent der Kinder aus Akademikerhaushalten kommen zu einem Hochschulabschluss, aber nur 6,6 Prozent jener Kinder, deren Eltern höchstens einen Pflichtschulabschluss haben.“ Weiter hinten stand zu lesen: „Das Ziel war und ist klar – eine leistungsstarke Schule, in der Kinder mit Freude und daher viel lernen.“

Die Diskussion über Bildung, Bildungsreformen, Bildungsgerechtigkeit usw. spart immer und immer wieder wesentliche Dinge aus. Zwischen Hochschulabschlüssen gibt es große Unterschiede. So haben Installateure, Fliesenleger und Maurer auf dem Arbeitsmarkt bessere Chancen (und verdienen auch besser) als Politologen, Soziologen und akademische Genderisten. Unsere Wirtschaft braucht MINT-Menschen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik), Mediziner und jede Menge Facharbeiter. In Vorarlberg, wo noch vieles sachlich und mit Bodenhaftung abläuft, gelten Handwerker und Facharbeiter so viel wie Akademiker, und das ist gut so. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, eine Kutte noch keinen Mönch und ein Studienabschluss noch keinen am Arbeitsmarkt angefragten Menschen.

Die Schule schwindet

Die „leistungsstarke Schule“ gibt es dank motivierter Lehrer immer noch, aber sie wird schwächer. Begonnen hat der Abstieg durch eine fortwährende Politik der Entlastung. Wer sich die Mühe macht, die Tage abzuzählen, an denen Schüler die Schule besuchen, wird einen Schwund bemerken. Begonnen hat es auf dem Höhepunkt der ersten weltweiten Energiekrise, als sich die österreichische Bundesregierung 1973 entschloss, zuerst einen autofreien Tag und ein Jahr später „Energieferien“ einzuführen. Die neue Freizeit wurde freudig begrüßt und bis heute für einen Skiurlaub am Berg oder Badeurlaub im Süden genutzt.

Vor der Energiekrise in den Siebzigerjahren besuchten Österreichs Schüler noch an zwei Drittel aller Tage im Jahr die Schule. Schulfrei waren Sonntage, Feiertage und Ferien. In der Zwischenzeit kamen Projektwochen, Zwickeltage und freie Samstage dazu. Der neueste Hit sind die der nordischen Göttin Greta gewidmeten Freitage. Es gibt heute keine Schule mehr, an der es mehr als 50 Prozent Schultage pro Kalenderjahr gibt. In der Regel sind es nur noch 45 bis 48 Prozent. Die lieben Kleinen sind zum Kummer vieler Eltern öfter zu Hause als in der Schule.

Nicht nur die Schulzeit wurde reduziert. Auch das Niveau hat gelitten. Ein Vergleich von Matura-Mathematikthemen vor vierzig Jahren und heute erzeugt bei Mathematikern und Naturwissenschaftlern nasse Augen. Zwischen damals und heute liegen keine Welten, sondern Universen.

Deutschkenntnisse

Wir wenden uns den Deutschkenntnissen zu. Die Szene verdüstert sich nun um Größenordnungen. Mein damaliger Deutschlehrer nahm mich nach den schriftlichen Maturaprüfungen zur Seite und meinte sinngemäß: „Ihre Arbeit hat auf acht Seiten drei Beistrichfehler und eine falsche Großschreibung. Wegen des interessanten Inhalts und des Aufbaus Ihres Aufsatzes kann ich vielleicht doch noch ein Sehr gut retten.“ Er konnte es retten. Wie sieht es heute aus? Bis zum Jahr 2014 gab es die so genannte Fachbereichsarbeit. Schüler, die sich für ein bestimmtes Thema interessierten, schrieben (freiwillig) eine solche Maturaarbeit. Sie konnten sich dadurch eine schriftliche Klausur ersparen. In der Regel wurden sehr gute und interessante Arbeiten abgegeben. Dieses elitäre Konzept war sozialistischen Bildungs„experten“ ein Dorn im Auge. Unter Bildungsministerin Claudia Schmied wurde die „vorwissenschaftliche Arbeit“ erfunden und durch ihre Nachfolgerin Gabriele Heinisch-Hosek 2015 umgesetzt. Alle Maturanten mussten nun eine schriftliche Arbeit abliefern. Es interessierte niemanden, dass so etwas im Unterricht nie geübt wurde und Lehrer – auch Gymnasiallehrer – für eine Beurteilung nie ausgebildet worden waren.

Stilistische Abstürze

Ich habe in den letzten Jahren ein paar Dutzend solcher Arbeiten zu Gesicht bekommen. Es waren immer wieder sehr gute bis brauchbare Texte dabei, aber die meisten hatten ein mittelmäßiges bis schauderhaftes Niveau. Nicht wenige Arbeiten mit stilistischen und inhaltlichen Abstürzen sowie schweren orthografischen Unfällen wurden mit „Befriedigend“ beurteilt. Plagiate wurden von den Lehrern schon deshalb übersehen, weil sie eine fachfremde Arbeit zu beurteilen hatten. Das dürfte der Grund sein, warum das Abschreiben heute als Kavaliersdelikt akzeptiert wird. Sogar abgekupferte Doktorarbeiten von Ministerinnen werden ohne Weiteres durchgewunken.

Bildung wird vererbt, und es gibt ungleiche Bildungschancen. Die Gründe liegen nicht in vermeintlich ungerechten Schulstrukturen, sondern in einem Schulsystem, in dem Politiker nicht mehr genau hinsehen. Es gibt neben den bekannten PISA-Untersuchungen (internationaler Vergleich fünfzehnjähriger Schüler) auch die TIMSS- und PIRLS-Testserien (Vergleich von Schülern der 4. Schulstufe). Bei den österreichischen Volksschulen zeigen sich „dramatischen Unterschiede“, wobei die Resultate im Detail nicht veröffentlicht werden. Man bekommt die Zahlen nur mit Beziehung. Es gibt demnach Volksschulen in Österreich, die hervorragende Ergebnisse erzielen wie etwa in Oberösterreich. Am anderen Ende gibt es Schulen, die Analphabeten produzieren und chancenlose Kinder entlassen, viele von ihnen sind in Wien. Die wichtigen Fragen, die man hier stellen muss, lauten: „Welche Schulen sind die besten? Warum sind sie die besten? Wie kann man die schlechten Schulen nach oben holen?“

Die Forderung nach Abschaffung der „Selektion“ in Richtung Gymnasium oder Mittelschule ist der bequeme ideologische Weg, die Forderung nach höherem Niveau und Qualitätssicherung der mühevolle. Was den Akademisierungswahn betrifft, so sei nochmals betont: Ein Publizistik-, Politologie- oder Genderismusstudium mag spannend sein, aber den Einbau von Wärmepumpen, das Pflegen von Alten und Kranken und das Errichten eines Dachstuhls lernt man dort nicht. Letztere Tätigkeiten sind wertvoll und selten und werden daher am Stellenmarkt dringender nachgefragt als absolvierte Orchideenfächer.

Rudolf Öller ist promovierter Genetiker der Universität Tübingen und seit Jahrzehnten sowohl als Kolumnenschreiber als auch als Buchautor publizistisch tätig. Öller ist gebürtiger Oberösterreicher, hat in AHS und BHS Naturwissenschaften und Informatik unterrichtet und war ehrenamtlicher Rettungssanitäter, Blaulichtfahrer und Lehrbeauftragter beim Roten Kreuz. Er lebt heute in Vorarlberg.